Die Corona-Pandemie verlangt Kindern einiges ab. Über Monate ist Homeschooling statt Präsenzunterricht angesagt, sie dürfen sich nicht mit ihren Freunden treffen, Freizeitangebote fallen weg. Mehr Jungen und Mädchen als sonst benötigen psychologische Hilfe. Auch die Esslinger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat deutlich mehr Patienten als vor der Pandemie. Der Teckbote hat mit dem Chefarzt Dr. Gunter Joas gesprochen.
Mit welchen Problemen wenden sich Familien an Sie?
Dr. Gunter Joas: Zugenommen haben Notfälle von Kindern und Jugendlichen mit suizidalen Krisen. Wir haben Kinder, die drohen, aus dem Fenster zu springen, die versucht haben, sich zu erhängen oder Tabletten nehmen. Das habe ich in dieser Heftigkeit und Frequenz noch nie erlebt. Solche Zuspitzungen gibt es sonst mit 16, 17. Jetzt haben wir viele Notaufnahmen von Zwölf- bis 15-Jährigen. Das Positive ist, dass wir sie schnell stabilisieren können.
Kinder führen seit Monaten kein ‚normales‘ Leben. Wie macht sich das noch bemerkbar?
Dr. Joas: Ein großes Thema sind Essstörungen. Es gibt Kinder, die haben unheimlich zugenommen. Viele essen aber auch gar nicht. Da steckt keine Magersucht dahinter. Sie sind entmutigt, haben keine Lebensfreude mehr. Für sie ist zurzeit alles grau.
Wie ist die Situation in der Klinik?
Wir bekommen täglich drei, vier Notfälle - so viele wie noch nie. Das Problem ist, dass wir schon vorher zu wenig Plätze hatten. Unsere Belegung liegt derzeit bei 119 Prozent. Momentan stehen 115 Kinder auf der Warteliste - doppelt so viele wie vor Corona. Und wir haben einen unheimlichen Durchlauf. Die Liegedauer beträgt statt 44 jetzt 34 Tage. Das zeigt: Die Krisenaufnahmen haben zugenommen. Auch die Psychiatrische Institutsambulanz wird seit der Pandemie überrannt.
Welche Rolle spielen dabei die Schulschließungen?
Kinder haben eine hohe Resilienz, also eine hohe psychische Widerstandskraft. Wir beobachten aber eine deutliche Zunahme von Einsamkeitsgefühlen und depressiven Verstimmungen. Dazu trägt das Homeschooling bei. Kinder fragen sich, ‚wie geht es weiter?‘ Wenn sie ihre Lernpakete bekommen, wissen sie oft nicht, wie sie die bewältigen sollen. Das geht teils auch leistungswilligen Schülern so. Man verlangt von ihnen eine Fähigkeit zur Organisation bereits in der Grundschule, die sie nicht haben können.
Auch offene Räume fehlen. . .
Ja, Kinder und Jugendliche brauchen die, um einfach miteinander „abhängen“ zu können. Hinzu kommt: Es gibt keine Bewegungs- und Sportangebote.
Wie sieht es damit in der Klinik aus?
Die Klinikschule hatte immer offen. Wir bieten Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie an. Wir haben teilweise Patienten, die wollen nicht mehr nach Hause.
Wer ist besonders gefährdet? Sind das in erster Linie Kinder, die schon vorher auffällig waren?
Nicht alle Kinder sind jetzt psychiatrisch krank. Aber bei Menschen, die vorher schon psychische Probleme hatten, wirkt Corona wie das vielzitierte Brennglas. Es gibt ja auch nicht die Hilfsangebote wie sonst. Wir merken aber: Auch gesunde Kinder und vorher gut komponierte Familien kommen an ihre Belastungsgrenzen. Viele denken, es sei ihre Schuld, wenn sie es nicht hinkriegen. Wenn aber eine Mutter drei Schulkinder betreut, liegen irgendwann die Nerven blank. Vielen Familien geht die Luft aus. Neulich meinte ein kleiner Grundschüler: ‚Wir sind jetzt aber alle mal homeschoolingmüde‘.
Was wünschen Sie sich von der Schule?
Ich möchte nicht darauf schauen, was schiefgelaufen ist, sondern frage mich, ob sich eigentlich schon jemand überlegt hat, wie man gute Übergänge schafft. Ein zu großer Fokus wird auf die Lernrückstände und die Organisation von Nachhilfe gelegt. Die Verantwortlichen verstehen nicht, dass das Kinder und Jugendliche unter Druck setzt. Das Primäre muss sein, dass die Kinder und Jugendlichen Spaß haben an dem, was sie tun. Ich habe Schülerinnen bei mir sitzen, die freuen sich extrem auf den Präsenzunterricht, und dann kommen sie in die Schule und schreiben in der ersten Woche fünf Arbeiten. Meine größte Sorge ist, dass es für die Kinder und Jugendlichen von der Einsamkeit in die Überforderung geht und dass im nächsten Jahr bei Prüfungen total vergessen wird, dass hinter ihnen ganz schwierige Monate liegen.
Was wäre die Alternative?
Wir brauchen mehr Lehrer, kleinere Klassen, es braucht innovative Ideen und eine kritische Entrümpelung der Lehrpläne, denn wie soll man aufholen, was anderthalb Jahre versäumt wurde? Die Kinder und Jugendlichen sind eigentlich Helden der Pandemie. Erwachsene, die in der Industrie arbeiten, durften ja immer schaffen gehen und ihre ‚Kumpel‘ treffen. Kinder haben ein Anrecht auf emotionale Unterstützung und darauf, da abgeholt zu werden, wo sie stehen.
Welche Hilfe bieten Sie an?
Wir machen Krisengespräche. Wenn Kinder kein Licht am Ende des Tunnels sehen, ist es hilfreich, wenn wir die Dinge ordnen und sie loben für das, was sie leisten. Die Last wird dann ein bisschen weniger. Manchmal reicht es, eine Familie ambulant zu sehen. Und wir haben ein Team, das mit den Familien über Wochen zu Hause arbeitet und ihnen zeigt, wie sie ihren Alltag besser miteinander regeln. Bei dramatischen Fällen prüfen wir natürlich auch die Möglichkeit einer stationären Aufnahme.
Wie geht das bei der Überbelegung?
Wir stehen tatsächlich mit dem Rücken zur Wand. Gestern hatten wir kein freies Bett mehr. Wenn da noch jemand gekommen wäre, hätten wir ein Bett aus der ‚somatischen’ Klinik reinstellen müssen. Das ist alles hart auf Kante genäht, ich frage mich schon manchmal ‚geht das alles gut?‘
Was besorgt Sie am meisten?
Wir Kinder- und Jugendpsychiater sorgen uns um die Dunkelziffer. Was ist mit denen, die abgetaucht sind?
Welchen Rat geben Sie Familien, die an ihre Grenzen kommen? Wie kommen sie gut durch diese Zeit?
Das Wichtigste ist, ihnen Respekt für das zu zollen, was sie momentan leisten. Ich verschreibe ihnen, sich gegenseitig wenigstens einmal am Tag zu loben. Wir zeigen den Familien, wie man trotz der Belastung gut für sich sorgen kann und zeigen ihnen, was sie schon alles geschafft haben. Gut ist, den Fokus auf ihre Ressourcen zu richten, auf das, was sie zusammenhält. Hilfreich ist zudem, eine Tagesstruktur zu haben, die im Familienrat festgelegt wird. An den Tisch gehört da auch der Papa, und die Jüngste muss sich genauso äußern können. Wichtig ist dabei auch, im guten Sinne Jobs zu verteilen.