Neidlingen. „Man kann keinen Fall mit dem anderen vergleichen“, sagt Däschler über seine Arbeit im Morddezernat. Er ermittelte bei der Jugendbande „Black Jackets“ und beim gewaltsamen Tod der sechsjährigen Alexandra aus Filderstadt bei Stuttgart. „Da hatten wir 1200 bis 1400 Spuren“, erzählt er vom großen Puzzlespiel, das mit einem Geständnis des Täters endete. Nicht nur der „Leiter der Ermittlungen“, der er oft war, ist für ihn entscheidend. „Einer allein ist gar nichts. Man muss jedem seinen Bereich überlassen, den er kann.“ Däschler hat viele Mörder vor sich gehabt, sein Schwerpunkt war die Vernehmung. „Man muss jedem seine Menschenwürde lassen, egal, was er getan hat“, ist er überzeugt. „Wer getötet hat, das sitzt so tief drin, irgendwann will er das jemandem erzählen.“
Seit 2000 leitet Oberstaatsanwalt Kurt Schrimm die Zentrale Stelle in Ludwigsburg. „Ich hätte eine Stelle frei“, sagte er Däschler bei einem zufälligen Kontakt am Telefon. So kam Däschler im November 2009 zu seiner neuen Aufgabe. „Als Polizist war ich ein Exot“, sagt er zu seiner Arbeit zwischen lauter Staatsanwälten und Juristen. Zunächst für ein Jahr, dann für drei, schließlich für viereinhalb Jahre. Wäre er nicht zum Bürgermeister gewählt worden, wäre er danach wieder zum Morddezernat zurückgekehrt, das hatte er seinem Chef versprochen. Seine Ermittlungen für die Zentrale Stelle führten ihn unter anderem nach Griechenland, er vernahm Zeitzeugen und Partisanen, baute ein kleines Netzwerk auf. Er bekam Kontakt zu Hagen Fleischer, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Athen. „Seine Studenten haben für mich Akten ausgewertet.“
Dann kam Däschlers größte Mission, die ihn eineinhalb Jahre beschäftigen sollte: Auschwitz und seine Außenlager. Warum wurden diese Taten nicht schon Jahrzehnte vorher verfolgt? Laut Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) sei eine Individualschuld nachzuweisen gewesen. „Ein Zeuge hätte bestätigen müssen, dass Wachmann x auf der Rampe den Menschen y erschossen hat. Das war nach so langer Zeit nicht mehr möglich.“ Doch dann kam 2011 die Verurteilung des Wachmanns und NS-Kriegsverbrechers John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord im KZ Sobibor. „Das war uns der Anstoß, die Lager nochmals aufzuarbeiten.“ Däschler nennt noch einen Grund für die Verzögerung: „Manche Archive im Ausland haben sich erst in den letzten Jahren geöffnet.“
Als Ausgangspunkt für seine Ermittlungen bekam Däschler eine Liste mit 6000 Namen. Sie war aus den Frankfurter Auschwitz-Prozessen der 1960er-Jahre hervorgegangen. Als ersten Filter suchte Däschler alle heraus, die 100 Jahre oder jünger waren, es blieben 1200 Namen. Er durchforschte Melderegister und fand 75 Namen. Am Ende konnte er 28 noch lebenden Personen nachweisen, dass sie in Ausschwitz tätig waren.
Däschler sichtete Akten aus dem Bundesarchiv und der Deutschen Dienststelle (WASt) in Berlin, aus dem Archiv in Auschwitz, von der Staatsanwaltschaft in Krakau: Wer war in welcher Zeit in welchem Lager? Mit welcher Aufgabe? Kamen in dieser Zeit Deportationszüge an? Für die 28 Fälle stellte er alle Dokumente aus allen Archiven in jeweils einem Ordner zusammen. Die Akten übergab er an die zuständigen 15 Staatsanwaltschaften aus 15 Bundesländern. „Sie sind bemüht, noch sind nicht alle Verfahren abgeschlossen.“
Däschler hat in Auschwitz nicht nur das Archiv gesehen. Mehrere Stunden lang war er an einem regnerischen Oktobertag zu Fuß im Stammlager und im Außenlager Birkenau unterwegs. „Da kommt einem das kalte Grausen. Wenn einer zu mir sagt, er war in Birkenau und hat nicht mitbekommen, dass da getötet wurde, dann ist das gelogen. Menschen wurden verbrannt, das hat weit gestunken. Ich will mir das nicht vorstellen, wie der Zug dort ankam.“
„Mord verjährt nicht“, betont Däschler, spricht vom KZ als einer „Tötungsmaschinerie“ und einer „massenhaften Tötung ohne Vorbeziehung“. „Wenn meine Angehörigen im KZ umgebracht worden wären und ein Täter würde noch leben, würde ich wollen, dass er mit dem Vorwurf konfrontiert wird.“ Ob ein Täter noch haftfähig ist, war für Däschler unerheblich. „Ich habe mit 94-Jährigen gesprochen, die nach wie vor von der Rechtmäßigkeit ihres Tuns überzeugt sind.“ Er stieß auf „null Unrechtsbewusstsein“. Was damals passierte, „sei nicht schlimm gewesen.“ Manches, was er hören musste, war für Däschler selbst nach 20 Jahren Erfahrung mit Mördern kaum auszuhalten. „Das kann doch nicht wahr sein“, dachte er manchmal. „Keiner hat zugegeben, dass er dort war.“ Der oft zitierte „Befehlsnotstand“ zählt für Däschler nicht. „Bei meinen Ermittlungen ist mir kein Fall bekannt geworden, dass jemand getötet wurde, weil er es nicht gemacht hat.“ Es könne jedoch sein, dass jemand deshalb an die gefährlichere Front kam.
„Sie hat mich von der Person her überzeugt“, sagt Däschler über seine erste Begegnung mit der Filmemacherin Astrid Schult. Die Dreharbeiten für die WDR-Dokumentation „Das letzte Kapitel“ erstreckten sich über mindestens ein Jahr. Wenn Däschler im Film seine Sachen zusammenpackt, dann war das tatsächlich sein letzter Tag bei der Zentralen Stelle, bevor er zum 1. März 2014 seinen Dienst als Bürgermeister antrat. Eine Entwicklung, die zu Beginn der Dreharbeiten noch nicht zu ahnen war. Die fertige Dokumentation bekam Däschler erst bei der Ausstrahlung zu sehen. „Ich war gespannt wie ein Flitzebogen.“ Däschler hatte sich in seiner Einschätzung der Filmemacherin nicht getäuscht. „Ich habe mich wiedergefunden, das bin ich. Der Film hat meinen Stil zu ermitteln gut wiedergegeben.“
Über vieles, was er im Polizeidienst gelernt hat, ist Däschler heute froh. „Ich werde jetzt 53, diese Berufserfahrung schadet mir nicht. Mit Menschen umgehen zu können, ist ein hohes Gut, auch als Bürgermeister.“ Ein Mord ist in der jüngeren Geschichte von Neidlingen nicht passiert und Däschler hofft, dass das so bleibt. „In Weilheim unter der Limburg gab es mal einen“, weiß er. Liest er eigentlich Krimis? Das nicht, aber er schaut immer wieder gerne Tatort. Unabhängig davon, wie viel das mit dem realen Polizeidienst zu tun hat.
Die am 19. Juli ausgestrahlte halbstündige Dokumentation ist ein Jahr lang auf http://www1.wdr.de/fernsehen/regional/hierundheute/sendungen/letztekapitel100.html zu sehen. Dort gibt es auch den am 26. Juli gesendeten zweiten Teil, der sich mit den Ermittlungen in Nordrhein-Westfalen beschäftigt.