Lea Stolz absolviert ein freiwilliges Auslandsjahr in Ägypten und arbeitet dort mit Jugendlichen
Von Hepsisau nach Kairo

Gewaltsame Proteste, Vergewaltigungen, eine improvisierende Regierung – so erlebt die europäische Öffentlichkeit Ägypten. Die 20-jährige Lea Stolz aus Hepsisau kann sich gerade ihr eigenes Bild machen. Sie absolviert im Rahmen des europäischen Freiwilligendienstes ein Auslandsjahr in Kairo und arbeitet an interkulturellen Austauschprojekten für ägyptische Jugendliche mit.

Kairo. Gemeinsam mit vier anderen deutschen Freiwilligen unterstützt Lea mit ihrer Arbeit junge Ägypter in ihrem persönlichen Werdegang. „Die Vermittlung interkultureller Kompetenzen steht für uns im Vordergrund“, sagt Lea über die Projekte, an denen sie aktuell beteiligt ist.

Kairo, die Nil-Metropole, in der sich tagsüber Schätzungen zufolge mehr als 20 Millionen Menschen aufhalten, befindet sich nach den Ereignissen des arabischen Frühlings in einem Zwiespalt zwischen einer Öffnung hin zur europäischen Moderne und islamischem Fundamentalismus. Es sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die in dieser zweischneidigen Welt besonders gefordert sind, sich eine eigene Meinung zu bilden, und deren Wertesystem entscheidend dafür sein wird, in welche Richtung sich Ägypten in den nächsten Jahrzehnten bewegt.

„Was uns besonders gefällt, ist, dass wir von unserer Gastorganisation, der ‚Intercultural Youth Dialogue Association‘ die Freiheit bekommen, unsere eigenen Ideen in Projekte umsetzen zu können“, sagt Lea. So verwirklichen und unterstützen sie und ihre Kollegen derzeit etwa eine monatliche Kulturveranstaltung zu verschiedenen Themen und helfen Schulabgängern im Rahmen eines Workshops dabei, Bewerbungen zu schreiben. Als europäische Freiwillige setzen sie dort an, wo das ägyptische Ausbildungssystem versagt. Leas Steckenpferd ist ein Projekt, das die Ägypter noch auf eine ganz andere Weise fordert: Ein Theaterprojekt auf Englisch mit Schülern einer gymnasialen Oberstufe.

Die Freiwilligen haben schnell erkannt, dass das Konzept von Austausch und Begegnung verschiedener Kulturen in einem Land wie Ägypten etwas anders umgesetzt werden muss, als man es beispielsweise als Schüler aus Deutschland kennt. Die meisten Eltern ägyptischer Jugendlicher verdienen sehr wenig Geld – so beträgt das Gehalt eines Kassierers in einem Supermarkt nur etwa hundert Euro monatlich. Kaum eine ägyptische Familie könnte es sich leisten, ihre Kinder auch nur für kurze Zeit ins Ausland zu schicken. Darum haben Lea und ihre Kollegen sich bewusst dafür entschieden, den Ägyptern mit ihren Projekten Europa auf einer regionalen Ebene näherzubringen und damit eine Umgebung für den Ausbau gegenseitiger Toleranz zu schaffen.

Seit August 2012 leben Lea und ihre vier deutschen Kollegen in Kairo. An ihr neues Leben in einer Kultur, in der man Gemeinsamkeiten mit dem gewohnten deutschen Lebensumfeld großteils vergebens sucht, haben sie sich längst gewöhnt. Gemeinsam bewohnen sie eine Wohnung in einem Mietshaus, acht Kilometer entfernt vom „berüchtigten“ Tahrir-Platz. Der Ort, an dem die ägyptische Revolution einst friedlich begann, wurde in den europäischen Medien mehr und mehr zum Symbol für gewalttätige Auseinandersetzungen und das zwielichtige Treiben von Schattengestalten der islamistischen Szene. Lea hat einen kritischen Blick auf das Bild, das die deutschen Medien von Kairo zeichnen: „Es wird das totale Chaos propagiert. Wenn man allerdings erst mal tagsüber auf dem Tahrir war, erkennt man schnell, dass es meist kein Problem ist, sich dort aufzuhalten, weil es dort in der Regel sehr friedlich ist. Nur nachts sollte man vor allem als Frau nicht alleine dort hingehen. Man bekommt hier ja auch schnell ein Gespür dafür, was man tun kann, ohne sich in Gefahr zu bringen.“ Für den Fall, dass sich die Sicherheitslage im Land einmal drastisch verschärft, stehen alle Deutschen, die wie Lea vorübergehend in Ägypten leben, dennoch über einen Mail-Verteiler mit dem Auswärtigen Amt in Verbindung.

Ein Leben mitten unter Ägyptern macht die Integration nicht schwer. So haben Lea und ihre Kollegen schnell einige ägyptische Freunde gefunden, mit denen sie oft abends ausgehen. „Wenn man mit Ägyptern unterwegs ist, zum Beispiel in einem der vielen Shisha-Cafés der Stadt, herrscht immer eine unbeschreibliche Stimmung, eine Mischung aus heiter und chaotisch. In dieser Atmosphäre diskutieren wir auch oft mit unseren Freunden über Politik. Wir erleben so die Hoffnungen und Sorgen der Menschen hautnah mit und bekommen einzigartige Einblicke in die ägyptische Kultur.“ Ihre neuen Freunde unterstützen Lea auch im Alltag, etwa wenn es Probleme mit der Verständigung gibt. Zwar haben sie und ihre Kollegen einen Grundlagenkurs in Arabisch absolviert und vertiefen ihre Sprachkenntnisse durch arabische Lektüre. „Das Problem ist aber, dass Ägyptisch ein Dialekt des Arabischen ist, der im Prinzip nur gesprochen wird. Geschrieben ist alles noch mal ganz anders“, erklärt Lea.

Mit anderen Problemen, die ein Leben in einem vollkommen anderen Kulturkreis mit sich bringt, hat Lea gelernt umzugehen. „Natürlich wird man als europäische Frau von den Männern auf der Straße angestarrt. Aber daran habe ich mich längst gewöhnt. Außerdem gilt auch hier: Man kann sich auch selbst schützen, indem man einige Regeln beachtet. Es gehört für mich auch ein Stück weit zum Kulturverständnis, nur in langen Klamotten auf die Straße zu gehen.“

Apropos Kleidung: Eine inte­res­sante Beobachtung machte Lea auf einem ihrer Spaziergänge durch Kairo deutlich, wie zwiegespalten die ägyptische Gesellschaft in den Zeiten des Wandels ist: „Neben einem Laden, der Burkas verkauft, lagen im Schaufenster eines anderen Ladens Netzdessous ausgelegt.“

Die vielen positiven und spannenden Eindrücke, die Lea durch ihre Arbeit und ihr Leben mitten unter Ägyptern gewinnt, werden ihr freiwilliges Jahr zu einem unvergesslichen und einprägsamen Erlebnis machen. In einem Land, das mitten in einer historischen Veränderung mit ungewissem Ausgang begriffen ist, hat sie sich mit ihrer Arbeit einer großen Herausforderung gestellt. Doch neben der Bereicherung des eigenen Werdegangs, die ein Freiwilligendienst im Ausland mit sich bringt, wird so am Ende auch das Gefühl bleiben, etwas erreicht zu haben. Ein Zeichen gesetzt zu haben in einer sich wandelnden Welt, in der jeder Einzelne gefordert sein wird, über die Grenzen der eigenen Kultur hinaus auf andere zuzugehen.