Kirchheim. Außer „1
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50 Jahre Nabern“ gab es noch „90 Jahre Posaunenchor“ und „10 Jahre Bürgerverein Zehntscheuer“ zu feiern. Das alles gab es an den beiden Abenden in unterschiedlicher Ausprägung und Intensität. Bindeglied war allerdings der Festvortrag zur Naberner Ortsgeschichte, den Kirchheims Stadtarchivar Dr. Roland Deigendesch am Wochenende gleich zwei Mal in der Zehntscheuer hielt. Am ersten Abend folgten auf den Vortrag zur Geschichte noch die „Naberner Geschichten“, für die Günther Baltz als Moderator vier unterschiedliche Naberner über die Zeit vor 50 bis 60 Jahren befragte.
Bevor Stadtarchivar Deigendesch auf die erste urkundliche Erwähnung Naberns im Jahr 861 einging, hatte er ein besonderes Schmankerl zu bieten: ein Foto vom Eintrag der späteren englischen Queen Mary im mittlerweile verschollenen Gästebuch der Burg Teck. 1892 hatte sie sich als „Victoria Mary von Teck“ in dem Gästebuch verewigt. Was das ganze mit Nabern zu tun hat, verschwieg Roland Deigendesch nicht allzu lange: Auf derselben Seite ist nämlich auch der Eintrag „Schultheiß Beßmer aus Nabern“ zu finden.
Der Erstnennungsurkunde Naberns ist es übrigens nicht besser ergangen als dem damaligen Gästebuch der Teck: Auch das Dokument aus dem Jahr 861 ist nicht mehr im Original erhalten. Statt eines Fotos gibt es dafür aber eine Abschrift aus dem 16. Jahrhundert. Der Schreiber hat versucht, die sieben Jahrhunderte ältere Urkunde möglichst originalgetreu zu kopieren. Trotz dieses Mankos in der Überlieferung gilt die Urkunde in der vorhandenen Form aber „unbestritten als echt“, wie Roland Deigendesch betonte.
In der Urkunde, dem sogenannten „Wiesensteiger Stiftungsbrief“, wird Nabern als „nabera“ bezeichnet, gefolgt von den Orten Bissingen, Weilheim und Neidlingen. In diesem Stiftungsbrief übergeben die Adeligen Rudolf und Erich dem Stift Wiesensteig Besitztümer in den genannten und in etlichen weiteren Orten. Wie Roland Deigendesch erläuterte, waren Abteien damals wichtige Einrichtungen zur Unterstützung der königlichen Macht. 861 herrschte im Ostfrankenreich ein Enkel Karls des Großen: Ludwig, dem spätere Historiker den Beinamen „der Deutsche“ verpassen sollten.
Wie in vielen vergleichbaren Fällen, verwies Kirchheims Stadtarchivar darauf, dass auch Nabern schon vor der ersten urkundlichen Erwähnung besiedelt war. Nabern gebe es wohl seit dem 6. oder 7. Jahrhundert. Der Name sei ungewöhnlich, weil er weder auf -ingen noch auf -heim endet. Daraus und aus der verhältnismäßig kleinen Gemarkung lasse sich schließen, dass Nabern etwas jünger ist als die Ortschaften der Umgebung. Außerdem gibt es nur noch einen weiteren Ort namens Nabern – östlich der Oder bei Küstrin in der Neumark. Heute heißt das andere Nabern allerdings auf Polnisch Oborzany.
Die Herkunft des Ortsnamens ließ Roland Deigendesch indessen offen. Der Naberner Pfarrer Gustav Bossert habe vor über hundert Jahren einen Zusammenhang zum heiligen Nabor(ius) hergestellt. Vor etwa 30 Jahren sei dann die Vorstellung aufgekommen, dass der Name mit einem Gewässer wie der Gießnau zu tun haben könne. Allerdings fließe die dazu passende Naab in Bayern und damit weit entfernt von Nabern.
Auffällig blieb für Nabern jedenfalls die Aufteilung in geistliche und weltliche Einflussbereiche. Wenn Nabern nämlich nach 240 Jahren Anfang des 12. Jahrhunderts wieder in schriftlichen Quellen auftaucht, dann im Zusammenhang mit dem Kloster Sankt Peter im Schwarzwald. Das lag an den Zähringern, die gerade ihren Sitz von der Gegend um die Limburg und Weilheim in den Breisgau verlegten. Während die weltliche Herrschaft in Nabern über die Nellenburger und die Zähringer-Seitenlinie der Tecker nach einem kurzen habsburgischen Zwischenspiel Ende des 14. Jahrhunderts auf die Württemberger überging, blieben die kirchlichen Verbindungen zu Sankt Peter bis zur Säkularisation Anfang des 19. Jahrhunderts bestehen. Dennoch ist bereits für 1552 der erste protestantische Pfarrer in Nabern nachgewiesen.
Die Selbstverwaltung ließ in Nabern länger auf sich warten als die Reformation: Erst 1684 wurde das Rathaus erbaut. Ebenfalls 1684 ist auch der erste namentlich bekannte Schultheiß gestorben – Balthasar Zimmermann. Zuvor hatte Nabern nicht nur mit Dorfgericht und Schultheiß zu Bissingen gehört. Vielmehr waren auch die Weintrauben aus Nabern lange Zeit in Bissingen zu keltern, bevor sich die Naberner mit dem Kloster Sankt Peter und mit den württembergischen Amtleuten darauf verständigten, dass sie eine eigene Kelter errichten durften.
Roland Deigendesch beschrieb außerdem die Schwierigkeiten der Naberner Landwirtschaft, bedingt durch schlechte Böden, über die 1730 geklagt wird. 1756 gab es Klagen wegen „Vaganten und Bettlergesindels“ oder auch wegen französischer „Deserteurs, welche hier mit Stehlen sich ernähren wollen“. Im jungen Königreich Württemberg habe es im 19. Jahrhundert weitreichende Reformen in der Landwirtschaft gegeben. Aber erst nach der Revolution von 1848 seien „di
e letzten Reste der feudalen Grundabgaben wie der Wein- und Getreidezehnt“ abgeschafft worden. Probleme mit Armut seien damals unter anderem durch Auswandern gelöst worden. So berichtete Roland Deigendesch auch von einem Fall, in dem die Gemeinde Nabern eine 13-köpfige Familie mit 150 Gulden bei der Auswanderung unterstützte. Das war günstiger als die jahrelange Armenfürsorge, falls die Familie in Nabern geblieben wäre.
Über die Industrialisierung und bedeutende Unternehmen, die sich in Nabern gründeten oder ansiedelten, kam Kirchheims Stadtarchivar schließlich auf das Ende der kommunalen Selbstständigkeit Naberns zu sprechen. 1933 sei der geplante Zusammenschluss mit Bissingen noch an der Frage der Farrenhaltung gescheitert. Seit dem 1. Januar 1974 aber ist Nabern ein Kirchheimer Teilort. Eine Volksbefragung Anfang Dezember 1973 hatte mit 442 zu 74 Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von knapp 55 Prozent eine deutliche Mehrheit für die Aufgabe der Eigenständigkeit ergeben. So zeigte Roland Deigendesch am Ende des Vortrags eine weitere repräsentative Urkunde: den Vertrag zwischen Nabern und Kirchheim vom 15. Dezember 1973.
Die Zeit seit Ende des Zweiten Weltkriegs beleuchtete Günther Baltz am Freitag noch mit seinen vier Gesprächspartnern auf höchst unterhaltsame Art. So berichtete etwa Dieter Gall von Kuh- und Pferdegespannen sowie von den ersten Traktoren im Ort um 1949/1950. Er selbst habe einst als Neunjähriger das „neue Bulldögle“ seiner Familie bereits nach einer halben Stunde in den Graben gefahren. Er bedauert, dass heutzutage das Backhaus kaum mehr benutzt wird – vor allem nicht von jungen Frauen. Und auch der Naberner Mostkonsum sei von gut 100 000 Litern vor 50 oder 60 Jahren auf mittlerweile geschätzte 10 000 Liter zurückgegangen.
Hedwig Kapp berichtete von ihrer Aussteuer, die sie 1957 von Ochsenwang nach Nabern mitbrachte. Unter anderem gehörten dazu „a Kühle ond a Kälble“ sowie „zwoi Säckla Mehl“, also „a Brotmehl ond a Spätzlesmehl“. Naberner Treffpunkte für „jonge Mädla ond jonge Kerle“ seien damals die Molke gewesen oder auch „Königs Mäuerle“ – woran sich viele Zuhörer in der Zehntscheuer noch lebhaft zu erinnern schienen.
Emil Weber berichtete von seinen Erfahrungen als Heimatvertriebener oder „Rucksackdeutscher“ – ein Begriff, der am Freitag nicht negativ gemeint war. Als Städter aus dem weltberühmten Kurort Karlsbad tat er sich nicht nur mit der Sense schwer, sondern auch mit dem Kuhgespann seines Schwiegervaters, das ihn einmal rund ums Dorf führte, aber nicht zum gewünschten Ziel. Trotzdem muss er sich in der Familie seiner Naberner Frau zur Genüge bewährt haben, sodass er inzwischen fast schon selbst als Naberner gilt.
Einen besonderen Rückblick gab schließlich noch Wilfred Nennemann, der 1951 – also vor 60 Jahren – in Nabern seine erste Stelle als Lehrer angetreten hatte. Die Schulkinder seien damals „fast alle noch brav“ gewesen. Und die Eltern seien hinter der Schule und den Lehrern gestanden. Anders hätte es gar nicht funktionieren können, vier und mehr Klassenstufen gleichzeitig zu unterrichten. Die Kinder hätten auch ohne besondere Anweisung durch den Lehrer in der Schule selbstständig ihre Arbeit gemacht. Und außerdem gab es dann noch die guten Schüler unter den Älteren, die den Lehrer mitunter ersetzten, nach dem Motto: „Inge, schreib‘ dene mal a paar Rechnonga an d‘Tafel.“
So endete ein ganz besonderer Abend, an dem es viel Naberner Geschichte und Geschichten zum Miterleben und Nachvollziehen gab.