Württembergische Landesbühne Esslingen (WLB) brillierte mit Hans Falladas „Kleiner Mann - was nun?“
Württembergische Landesbühne Esslingen (WLB) brillierte mit Hans Falladas „Kleiner Mann - was nun?“

Kirchheim. Während die eiligsten Theaterbesucher wohl schon zufrieden die Rampe des Parkdecks hi­nunterrollten, hielt in der Stadthalle der begeisterte Applaus noch immer an. Mit ungewohnt heftigem Beifall
bedankte sich das begeisterte Publikum für eine eindrucksvolle En­sembleleistung und für einen langen, aber nie langweiligen, rundum gelungenen Theaterabend.

Die Akteure der Württembergischen Landesbühne hatten sich die nachhaltigen Ovationen redlich verdient. Regisseur Tilo Esche hetzte das Ensemble in Reiner Müllers Bühnenfassung von „Kleiner Mann, was nun?“ nicht durch aus einem Bestseller herausgepickte Versatzstücke. Er versuchte vielmehr, mit allen Mitwirkenden gemeinsam möglichst nah am Original zu arbeiten und die Zeit der Weltwirtschaftskrise spürbar, erlebbar und verstehbar zu machen.

Das erfordert Zeit und etwas Geduld, doch es wird zweifellos belohnt, sich auf diese behutsam eingeleitete Zeitreise einzulassen. Schon der bewusst hinausgezögerte fließende Start ins dramatische Geschehen war vielversprechend und lieferte neben musikalischem Zeitkolorit einen erste Erwartungen weckenden Ohrenschmaus. Da schlendern einzelne Musiker unaufgeregt und eher zufällig auf die Bühne, Instrumente werden angespielt und begleiten plötzlich andere. Nach einer Weile spielt eine virtuose Combo dann den Jazz der 20er- und 30er- Jahre, in den man sich hineinfühlen soll.

Menschen, die zwar Zeit und Musik, aber vielleicht keine Arbeit haben, hocken herum, blättern in Zeitungen und verunsichern zwei verängstigt ins Wartezimmer eines Arztes stolpernde Menschen, deren „Allerwelts-Schicksal“ ein gewisser Rudolf Wilhelm Friedrich Ditzen einst so einfühlsam, treffsicher und überzeitlich gültig aufzeichnete, dass es rund acht Jahrzehnte später noch immer unter die Haut geht. Ein glückloser Buchhalter verliert seinen Job, weil er heimlich verheiratet und unheimlich verliebt ist und daher als dringend gesuchter Schwiegersohn nicht herhalten kann. Er leidet, weil er seine Frau nicht ernähren kann und den Druck einer unmenschlichen Verkaufsquote nicht erträgt. Seine letzte Hoffnung stirbt, als auch er im Millionenheer der Arbeitslosen landet.

Während tagesaktuell diskutiert wird, wie die Überlebensquote im sozialen Dschungelcamp berechnet werden soll, lebt auf der Bühne die Weltwirtschaftskrise der späten 20er und frühen 30er-Jahre auf. Sie hat dank einer einfallsreich gestalteten Bühnenwirklichkeit nicht nur die passenden Bilder bekommen, sondern auch zwei ganz individuelle und letztlich doch austauschbare Gesichter. Pinneberg, „Lämmchen“ und selbst der noch ungeborene „Murkel“ sind beim Publikum angekommen. Jetzt kann das sehr nah am Buch arbeitende Stück beginnen - und von Anfang an begeistern.

Maßgebliche Garanten des Erfolgs waren natürlich die von dem immer korrekten „Buchhalter Pinneberg“ (Jonas Pätzold) und dem ungewollt schwangeren „Lämmchen“ (Nora Backhaus) vorgelebten hochmoralischen Liebenden, die das vollkommene Glück wollen, aber wissen, dass sie dabei vom Leben nicht viel erwarten dürfen. Entscheidenden Anteil an der stimmigen Tonlage der Inszenierung hatten die Musiker, die zuweilen hinter einer in das trostlose Grau des Bühnenbilds gewebten Frühlingsidylle von Claude Monet agierten. Die Band „Broken Glass und Rusty Nails“ trug mit passenden Jazz-Läufen dazu bei, der Weltkrisentragödie etwas von der in ihr liegenden Schwere zu nehmen.

Bei einer begeisternden Ensemb­leleistung setzten vor allem auch Stefan Wancuras als hyperaktiv am Rand des Herzinfarkts herumkaspernder Düngemittelhändler, Matthias Zajgiers als gnadenlose Prokuristin oder auch der in hündischer Unterwürfigkeit herumdackelnde Dietrich Schulz ganz besondere Akzente. Sie agierten dabei hart an der Grenze ihrer fast etwas zu beherzt überzeichneten Charaktere, liefen aber nie wirlich Gefahr, das anrührende Drama ins Lächerliche zu ziehen und zur platten Comedy verkommen zu lassen.

Die Gestaltung der von Ulrike Reinhard höchst variabel eingerichteten Guckkastenbühne ermöglichte, kurz aufblitzende „Frivolitäten“ genauso originell und dezent einzublenden, wie Einblicke zu gewähren in das praktischerweise senkrecht an der Wand positionierte Lotterbett von Pinnebergs im Rotlichtmilieu agierender Grand-Dame und Mutter Mia (Susanne Weckerle). Trotz gelungener Gags und einfach erzeugten Effekten wurde das Drama aber nie zur Klamotte, sondern blieb das zum Nachdenken und Mitfühlen anregende Meisterwerk eines selbst am Leben leidenden Menschen.

Unter dem autoritären Vater leidend, hatte er im Alter von 18 Jahren gemeinsam mit einem Schulkameraden versucht, sich in einem Duell das Leben zu nehmen. Der Mitschüler starb, der spätere Schriftsteller überlebte und lernte die Psychiatrie von innen kennen.

Als morphiumabhängiger Alkoholiker versank er in einem Inferno aus Behandlung, Beschaffungskriminalität und Bestrafung. Mitte 30 wurde der unpolitische und allein auf das private Glück Bauende zurück ins Leben geworfen und heiratete die ihm zum Vorbild von „Lämmchen“ gewordene Anna Issel. Dank des an ihn glaubenden Verlegers, Förderers und Freundes Ernst Rowohlt gelang ihm der Durchbruch zum international anerkannten Schriftsteller.

Ein Jahr nach seiner Scheidung suchte der exzessive Kenner menschlicher Höhen und Tiefen 1945 ein weiteres Mal „privates Glück“. Er tauschte die ländliche Idylle am Carwitzer See gegen die drohenden Gefahren der Großstadt Berlin, wo er 1947 starb. Die Antwort auf die immer wieder gestellte Frage „Kleiner Mann - was nun?“ hatte Fallada auch in seinem eigenen Leben nie gefunden.