Wilhelm Braun wird morgen 90 Jahre alt
Waghalsiger Bursche

Von den Segelfliegern an der Teck kann er so manch spannende Geschichte erzählen. Doch schon lange bleibt er am Boden und wandert lieber. ­Morgen wird Wilhelm Braun aus Bissingen 90 Jahre alt.

Bissingen. „Ausziehen – laufen – los“. Das Kommando beim Gummiseilstart hat Wilhelm Braun noch heute im Ohr. Er gehörte damals, Mitte der 1930er-Jahre, zu den waghalsigen Burschen aus der Seegemeinde, die sich im offenen Schulgleiter, den SG 38 „Zögling“, von der Sigelshütte am Teckberg in die Lüfte katapultieren ließen. Doch nicht nur das. Die Bissinger bauten ihren „Zögling“ und später auch das „Peterle“ selbst. Und wenn einer der Luftikusse den fliegenden Drahtverhau mit dem Holzgitterschwanz zu Bruch flog, gab‘s Werkstattstunden.

„Nach dem Schulgleiter bin ich dann den Schädelspalter und auf dem Hornberg den SG 38 mit Boot, also geschlossenem Rumpf, geflogen“, erinnert sich Wilhelm Braun. Er hat alle Segelflugscheine in der Tasche, den A-, B- und C-Schein und legt die etwas vergilbten Flugberechtigungen auf den Küchentisch. Selbst im Krieg in der Fliegertechnischen Schule Oberglogau konnte der Bissinger im doppelsitzigen „Kranich“ und im „Grunau Baby“ in die Luft gehen.

Doch der Reihe nach: Der gebürtige Bissinger drückte, wie es damals so üblich war, sechs Jahre lang die Schulbank der Volksschule und arbeitete zunächst, weil er noch nicht 14  Jahre alt war, in der Braun und Dieboldschen Sägemühle in Bissingen. Am 24. Dezember 1936, das weiß er noch genau: „An Heiligabend hab‘ ich bei Kolb & Schüle angefangen“. Fünf Tage vor seinem 19.  Geburtstag musste Wilhelm Braun einrücken. Er kam zunächst nach Crailsheim. 1942 nach Krosno in Polen. Von dort über Oberglogau nach Bergen-Belsen und von Bergen-Belsen nach Russland bei minus 40  Grad. Nach einem Lazarettaufenthalt in Prag wurde er wieder an die Front kommandiert und geriet danach in amerikanische Gefangenschaft in Andernach am Rhein. Als POW, Prisoner of War, entlassen wurde der Bissinger im Juli 1945.

Nach dem Krieg half er, die Weberei von Kolb & Schüle wieder aufzubauen. Die Firma kaufte in der Schweiz neue Maschinen, und Wilhelm Braun wurde nach einer Schulung auf den Schweizer Webstühlen Webmeister. Im Februar 1949 heiratete er dann seine Alwine in der Bissinger Marienkirche und weil‘s so schön war, führte auch der Schwager des Jubilars seine Angebetete zum Traualtar. Die Doppelhochzeit und Familienfeier war perfekt. 1951 wurde Tochter Lili geboren und drei Jahre später erblickte Sohn Helmut das Licht der Welt.

Selbst hinterm Steuerknüppel eines Segelflugzeugs zu sitzen, gehörte für Wilhelm Braun fortan der Vergangenheit an. „Das ging nach dem Krieg nicht mehr. Ich hab‘ bei Kolb & Schüle in der Tag- und Nacht-schicht gearbeitet“. Da war für die Fliegerei kein Platz mehr, zumal die Familie versorgt sein wollte. Natürlich sagte er nicht „Nein“, wenn ihn ein Pilot zu einem Rundflug einlud. Ansonsten zog er lieber seine Wanderstiefel an und machte sich auf Schusters Rappen mit dem Albverein auf. So manches Abzeichen zeugt davon. Auch heute noch tritt er bei den Bissinger Mittwochswanderern in die Spur.

Doch seit dem Tod seiner Frau vor zwei Jahren ist Wilhelm Braun alleine unterwegs. Er liest morgens seinen Teckboten, macht den Haushalt und hält den Garten ums Haus in der Schillerstraße in Schuss, besucht die Seniorennachmittage der Gemeinde und den Mittagstisch. Und wenn er dann noch Zeit hat, blättert er seine Fotoalben und Fliegerbücher durch. Die Fliegerei könnte auch bei seinem 90. zur Sprache kommen, wenn seine Familie und seine Freunde auf Wilhelm Brauns Wohl anstoßen und ihm alles Gute wünschen. „Ausziehen – laufen – los!“