Andreas Volz
Kirchheim. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, und es wird sie möglicherweise auch nie geben: Weder hat Hermann Göller Mess-Ergebnisse aus der Zeit vor dem Bau der Wand im Westen vorliegen, noch verfügt er über Aufzeichnungen zum Lärmpegel aus der Zeit danach. Ihm fehlt ein Messgerät, das die Werte festhält. Was er dagegen auf seinem Balkon liegen hat, ist ein Gerät, dass den jeweils aktuellen Wert angibt. Am Abend zuvor beispielsweise sei ein Motorrad auf der Umgehungsstraße gefahren, erzählt er. Da habe sein Messgerät 83,4 dB (A) angezeigt. Wenn Lastwagen vorbeibrausen, liegen die Werte leicht bei 70 dB (A). Im Schnitt allerdings, so sei ihm berichtet worden, liege die Lärmbelastung tagsüber bei 64,1 und nachts bei 57,6 dB (A) – und das seien Bereiche, die für hinnehmbar erachtet werden.
Dabei ist für Hermann Göller gerade die Angabe eines Durchschnittswerts nicht wirklich hilfreich: „An etwas Gleichmäßiges könnte man sich ja vielleicht gewöhnen. Aber wir haben hier keinen gleichmäßigen Lärm, sondern ganz viele Spitzen.“ Im Wohnzimmer bei Göllers ist es angenehm ruhig – aber nur, wenn Fenster und Balkontür fest verschlossen sind. Der Aufenthalt auf dem Balkon dagegen lässt sich höchstens mit Ohrenschützern genießen, denn die Lärmspitzen machen jede Vorstellung von Frühlingsidylle auf dem Balkon zunichte. Auf die Frage, ob denn wenigstens die Bäume den Lärm mindern, wenn sie demnächst „voller Laub stehen“, winkt Hermann Göller ab: „Das einzige, was die Blätter bringen, ist, dass sie den Staub ein bisschen abhalten.“
So wichtig und sinnvoll Schallschutzfenster auch sein mögen, die Kehrseite ist, dass sie außer dem Lärm auch die wärmende Frühlingsluft außen vor lassen. Im Sommer dann das umgekehrte Problem: Wenn man gerne die Nachtabkühlung nützen würde und zu diesem Zweck bei geöffnetem Fenster schlafen möchte, hat das bei dem Straßenlärm keinen Zweck, klagt Hermann Göller. Ganz abgesehen von der Ruhe, die es weder tags noch nachts gibt, sieht Hermann Göller auch noch einen immensen wirtschaftlichen Schaden: „Das reduziert unsere Immobilie im Wert.“
Der frühere Hausmeister des Ludwig-Uhland-Gymnasiums kämpft deshalb – für seine Ruhe und für den Wert seiner Immobilie: „Da gebe ich nicht nach.“ Und er ist nicht der einzige. „Bei uns geht es zwar nur um fünf Gebäude“, sagt er, „aber in diesen fünf Gebäuden gibt es 126 Wohneinheiten.“ Überall hat er nachgefragt, ob die Nachbarn so wie er unter dem Lärm leiden. Von 102 Eigentümern hat er auf diese Art und Weise Unterschriften erhalten. Bereits im Dezember hat er die Unterschriften persönlich an Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker übergeben. In einem Antwortschreiben steht das, was ihm alle Behörden und alle Politiker mitteilen, an die er sich bis jetzt gewandt hat: „Das Regierungspräsidium kommt zu dem Ergebnis, dass es für die Bewohner des Bulkesweges durch den Bau der Lärmschutzwand zu keiner objektiv fassbaren Steigerung der Lärmeinwirkung durch den Straßenverkehr gekommen ist.“
Immer geht es in den schriftlichen Stellungnahmen um „eine mögliche Zunahme des Schallpegels durch den Bau der Lärmschutzwand im Bereich von 0,1 bis 0,4 dB (A)“. Weiter heißt es in einem Schreiben des Regierungspräsidiums Stuttgart von Ende Januar an die Kirchheimer Stadtverwaltung, das Hermann Göller vorliegt: „Für eine der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit spürbare Zunahme des Schallpegels bedarf es eines Anstiegs der Lärmbelastung im Bereich von ca. 3 dB (A).“ Es folgt der Satz von der nicht „fassbaren Steigerung“.
Der Vollständigkeit halber wird in dem Brief noch darauf hingewiesen, „dass es auf Seiten der betroffenen Anwohner durchaus zu einer vermeintlichen Zunahme der Lärmbelastung kommen kann, ohne dass eine real wahrnehmbare Zusatzbelastung vorliegt. Dies ist jedoch ausschließlich dem jeweils individuell unterschiedlichen und subjektiv auftretenden Lärmempfinden geschuldet sowie in der Regel nur von kurzer Dauer.“ Hermann Göller liest diesen Satz und zieht daraus seine eigenen Schlüsse: Entsetzt sei er darüber, „dass wir durch die Lärmschutzwand plötzlich lärmempfindlicher geworden sind“, stellt er mit einem gewissen Hauch von Sarkasmus fest.
Nach wie vor hat er das Gefühl, als Bewohner der östlichen Seite der B 297 zu den „Menschen zweiter Klasse“ zu gehören. So hat er es bereits im März 2012 in einem Leserbrief geschrieben, und auch zwei Jahre später hat er diese Frage schriftlich an die zuständige Staatssekretärin im Verkehrsministerium, Gisela Splett, gerichtet: „Sind wir Menschen zweiter Klasse?“ Dass sich eine zusätzliche Lärmschutzwand auf der östlichen Seite wegen der geringen Überschreitung der Grenzwerte bei Nacht und wegen der geringen Anzahl von Betroffenen „aus wirtschaftlichen Gründen“ nicht lohne, mit dieser Aussage der Staatssekretärin will Hermann Göller sich nicht zufriedengeben.
Noch weniger leuchtet ihm eine weitere Aussage aus dem Ministerium ein: „Grundlage für den Bau der Lärmschutzwand westlich der B 297“, heißt es da über den Auslöser des aktuellen Falls, „bildete die Berechnung der Lärmwerte mit dem Ergebnis von Überschreitungen an 20 Gebäuden. Für die Ostseite waren dagegen lediglich Überschreitungen an 5 Gebäuden des Bulkeswegs zur Nachtzeit zu verzeichnen, während für den Bereich Bohnauweg keine Überschreitungen der Auslösewerte vorlagen.“ Dass hier ganz einfach Gebäude gezählt worden sein müssen, ist für Hermann Göller völlig unverständlich, denn fünf Gebäude mit insgesamt 126 Wohneinheiten sollten seiner Meinung nach nicht weniger wichtig sein als 20 Gebäude, bei denen es sich um Einfamilien- oder Reihenhäuser handelt.
In der „Berechnung der Lärmwerte“ sieht Hermann Göller ein weiteres Problem. Das Verfahren, wie die Belastung ermittelt wird, ist für den Laien nicht so einfach nachvollziehbar. Schriftlich hat ihm das Regierungspräsidium im Februar erklärt, warum der „Schalldruckpegel“ niemals gemessen, sondern immer nur berechnet werden darf. Zum einen sei das Messen rechtlich nicht zulässig, weil das Rechnen „rechtlich bindend vorgegeben“ sei. Zum anderen seien Lärmmessungen „zur realen Feststellung des zeitlichen Verlaufs eines Schallereignisses nicht geeignet“. Es handle sich immer nur um kurzfristige Momentaufnahmen, die von Witterungsbedingungen abhängig seien und die zudem durch andere Geräusche verfälscht werden könnten.
Demzufolge lässt sich die Realität also nicht messen. Sie lässt sich weit einfacher – und wohl auch gänzlich unfehlbar – berechnen: Die Berechnung „sichert ein Höchstmaß an korrekter Feststellung und ist im Ergebnis regelmäßig für die Betroffenen günstiger“. Das heißt, dass die Lärmpegel der Berechnung immer höher seien als diejenigen, die gemessen werden. Fazit des regierungspräsidialen Schreibens: „Insofern bestehen keinerlei Zweifel an einer exakten Feststellung der Lärmbelastung im Bereich Bulkesweg nach dem Bau der Lärmschutzwand an der B 297. Eine eventuelle Zunahme der Lärmbelastung in Teilbereichen der angrenzenden Wohngebiete liegt weit unterhalb der Wahrnehmbarkeitsschwelle. Auch deshalb sind weitere Lärmschutzmaßnahmen ausgeschlossen.“
Das erinnert dann doch ein wenig an „Die unmögliche Tatsache“, die Christian Morgensterns Kunstfigur Palmström vor über hundert Jahren schon zu der Erkenntnis gebracht hat, dass er wohl geträumt haben muss – weil „nicht sein kann, was nicht sein darf“. Gleiches gilt übrigens auch in einem Teilbereich der Berechnung: Eine der Rechengrundlagen ist die Annahme, dass sich alle Verkehrsteilnehmer an die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit halten. Auch hier ist die Sachlage theoretisch eindeutig, denn wenn man gar nicht schneller als 70 Kilometer pro Stunde fahren darf, dann wird das auch keiner tun. Es ist ja nicht erlaubt.
Hermann Göller schüttelt den Kopf und kämpft weiter: „Viele fragen mich, warum ich mir die Mühe überhaupt mache. Es bringe ja doch nichts. Ich denke mir aber, wenn man gar nichts macht, dann passiert erst recht nichts.“