Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Michael Winterhoff gibt Eltern praktische Hinweise
Was in der Erziehung schiefläuft

Ist die Entwicklung unserer Kinder gefährdet? Eltern, die zunehmend weniger Kontrolle über ihre Sprösslinge haben und nur noch auf dem Modus „Katastrophenalarm“ stehen. Kinder, die in ihrer Entwicklung sich selbst überlassen werden. Wie können wir dem entgegenwirken? Diese Fragen versuchte der Kinderpsychiater Dr. ­Michael Winterhoff zu klären.

Nürtingen. Der Referent Dr. Michael Winterhoff ist ein anerkannter Kinder- und Jugendpsychiater und Psychotherapeut. Er brachte sein neues Buch „SOS Kinderseele“ nach Nürtingen mit, in dem er den Verlust emotionaler und sozialer Intelligenz beklagt.

Seine Analyse ist in 28 Jahren Praxisarbeit entstanden und besagt, dass es bis 1995 eine Kindesentwicklung gab, die dem Alter entsprechend war. Das heißt, ein Kind hatte seinem Alter entsprechende Fähigkeiten ausgebildet, die es zum Erwachsenwerden und als Mitglied der Gesellschaft benötigte. Angefangen von der Unterscheidung zwischen Mensch und Ding über die Entstehung eines Selbstbildnisses bis hin zum Grundverständnis des Gesellschaftsaufbaus.

Heutzutage hätten gesellschaftliche Veränderungen bewirkt, dass Kinder nicht mehr ihrem Alter gemäß reagieren. Sie entwickelten kaum Frustrationstoleranzen, seien nur mangelhaft begeisterungsfähig und verfügten nicht mehr angemessen über Wissen.

Als Beispiel diente ein 17-jähriger Jugendlicher ohne Drogenproblematik, aus gutem Elternhaus, ohne sozial schwaches Umfeld. Er bricht in einen Baumarkt ein, ohne sich über Konsequenzen im Klaren zu sein und benutzt dabei noch seinen elfjährigen Bruder als Komplizen. Es fehlt nach der Festnahme jegliche Reue, Problemeinsicht oder Angst vor Folgen. Wie kann es so weit kommen, dass Kinder ihr Verhalten nicht der Gesellschaft anpassen können? Dr. Winterhoff hat dazu drei verschiedene Erklärungsansätze, die in Richtung der elterlichen Erziehung zielen. Um diese nachvollziehen zu können, sollten sich die Zuhörer frei von allen Vorstellungen machen, die sie bisher hatten.

Zum einen würden Kinder als Erwachsene behandelt und somit zum gleichwertigen Partner. Freie Auswahlmöglichkeiten, die einem Erwachsenen als Freiheit erscheinen, überforderten dabei das Kind. Dieses müsse erst noch lernen, wie die Gesellschaft funktioniere. Die Psyche des Kindes solle zuvor aufgebaut werden. Dabei helfen unter anderem klare Abläufe, an denen es sich orientieren kann und die Sicherheit schaffen.

Zum anderen machen sich die Erwachsenen abhängig vom Kind. Eltern, die in der sozialen Umwelt kaum noch Anerkennung finden und denen oft erklärt werde, dass es mit Wirtschaft und Politik bergab zu gehen drohe, bräuchten eine andere Art von Freude. Das Kind soll den Erwachsenen lieben um jeden Preis, weil dieser sich dann dadurch gut fühlen könne. Wer geliebt werden wolle, der möchte keine Fehler machen. Das Kind rutsche damit in eine Art Elternposition, indem es als Spiegel des Erwachsenen dient.

Zum Dritten sei das Kind Teil der Eltern und das sei wortwörtlich zu verstehen. Dr. Michael Winterhoff nennt dies Symbiose. Der Heranwachsende sei Teil des Elternkörpers geworden, und wenn es diesem nicht gut gehe, dann gehe es Mutter und Vater nicht gut. Probleme und Schwierigkeiten würden auf die Erwachsenen projiziert und dem Kind werde nicht die Chance gegeben, selbst auf diese Einflüsse zu reagieren.

Zu guter Letzt gab es, wie für jedes Problem, Lösungsansätze. Dr. Winterhoff stellte fest, dass man selbst erst mental gesund sein müsse, um ein Kind erziehen zu können. Ruhe zu bewahren, sich Zeit zu nehmen und keinen Druck aufzubauen seien wichtige Aspekte. Verschiedene wiederkehrende Rituale, also Handlungsmuster, geben dem Kind Sicherheit.

Das menschliche Gehirn denke in Reihenfolgen und diese könnten im Alltag eingebaut werden, wie zum Beispiel welches Kleidungsstück zuerst angezogen werde und so weiter. Das müsse man nicht beibringen, sondern einfach wiederholen.

Ein Experiment zum Schluss für alle gestressten Eltern: Laut Dr. Winterhoff wirkt ein Spaziergang im Wald Wunder. Er sollte nur vier bis fünf Stunden dauern und es dürfe keine Person oder technisches Gerät dabei sein, auch ein Ziel des Gangs ist nicht gewünscht. Nach einigen Stunden stelle sich Ruhe ein und der Druck verschwinde. Zu Hause könne man dann sein Kind vielleicht wieder als Menschen sehen, der angeleitet und erzogen werden muss. „Wofür, wenn nicht dafür, sollten wir uns sonst Zeit nehmen?“, schloss er.