Am 23. Juli jährt sich ein wichtiger Auslöser des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal: Die Übergabe des österreichisch-ungarischen Ultimatums an Serbien. Schon in der Ausgabe vom
Andreas Volz
Dienstag, 21. Juli 1914, wird im Teckboten über „die bevorstehende Démarche in Belgrad“ diskutiert. „Erwägungen in den Wiener verantwortlichen Kreisen“ hätten „zu dem Ergebnis geführt, daß von Serbien eine runde, klare und unzweideutige Erklärung verlangt wird, um nach Kräften das Uebergreifen der großserbischen Agitation auf den Boden der Doppelmonarchie zu unterbinden.“
Das Gesetz des Handelns wird den Gegnern zugespielt. „Sollte Serbien die geforderte Antwort verweigern“ – was wäre dann? Heute ist diese Frage längst geklärt. Damals lesen die Kirchheimer eine Antwort aus dem „Börsenkurier“ in indirekter Rede: „Von der Haltung Rußlands hänge viel, wenn nicht alles ab.“
Ein Zitat aus der „Militärischen Rundschau“ klingt bereits wesentlich schneidiger: Die österreichisch-ungarische Monarchie sei entschlossen, „dem unerträglichen Zustand an [ihrer] Südgrenze auf alle Fälle auf dem kürzesten Wege ein Ende zu bereiten und vor keinem noch so pompös herausgeputzten diplomatischen Kunststück des großen Freundes Serbiens [mit dem „großen Freund“ ist Russland gemeint] auch nur um einen Fußbreit zurückzuweichen.“
Die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung“ nimmt im nächsten Teckboten-Zitat zur Kenntnis, dass die europäische Presse die österreichischen Forderungen immer mehr für berechtigt halte. Ausgesprochen gemäßigt geht es weiter: „Dabei schließen wir uns der an mehr als einer Stelle ausgedrückten Hoffnung an, daß durch ein rechtzeitiges Einlenken der serbischen Regierung das Entstehen einer ernsten Krisis vermieden werde. Jedenfalls läßt es das solidarische Interesse Europas, das bisher in der langen Balkankrisis in der Wahrung des Friedens unter den Großmächten zur Geltung kam, erwünscht und geboten erscheinen, daß die Auseinandersetzungen, die zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien entstehen können, lokalisiert bleiben.“
Das „Lokalisieren“ spielt im Juli 1914 eine wichtige Rolle. Darin zeigt sich, dass die Gefahr einer Ausweitung – also eines großen europäischen Kriegs, ja, eines Weltkriegs – durchaus gesehen wird. Interessanterweise aber zeigt sich gleich im Anschluss, dass es auch ganz andere Interessen gab. So schreibt der Teckbote – ebenfalls zwei Tage vor Übergabe des Ultimatums – über „Munitionsbestellungen Serbiens“ und einen deutschen Rüstungsbetrieb, der davon profitieren wollte: „Die Rheinische Metallwaren- und Maschinenfabrik Erhard u. Co. in Düsseldorf hat am Samstag mit der serbischen Regierung einen Lieferungsvertrag über Geschützmunition verschiedenster Sorten in Höhe von 6½ Millionen Franken abgeschlossen.“
Mit dieser Munitionsbestellung macht Serbien nichts anderes als die Großmächte Deutschland, Österreich, Russland und Frankreich: Trotz aller Gespräche über den Frieden bereiten sie sich insgeheim auf einen Krieg vor und werfen der jeweils anderen Seite vor, genau das zu tun. Auch Vorwürfe zu Grenzverletzungen spielen da eine Rolle. Am Montag, 20. Juli 1914, beispielsweise ereifert sich der Teckbote über das Gerücht, dass ein deutscher Zeppelin in der Nähe der russischen Grenze beschossen worden sei. Einige Tage später wird fabuliert, dass französische Flieger in den deutschen Luftraum vorgedrungen seien – sogar bis Nürnberg. Es ist davon auszugehen, dass solche Meldungen in allen Blättern und in allen Ländern lanciert wurden, um für Empörung zu sorgen und den Ruf nach Vergeltung zu fördern. 1939 sollte der Beginn des Zweiten Weltkriegs ganz ähnlich begründet werden.
Aus dem Kreis der späteren Kriegsgegner zählt im Juli 1914 in der Teckboten-Berichterstattung einzig England noch zu den gemäßigteren Kräften. So wird am 20. Juli 1914 über „eine bemerkenswerte Friedensrede“ berichtet. Der damalige Schatzmeister und spätere Kriegspremier David Lloyd George hatte sich in London zur aktuellen Krise geäußert: Er habe „die Zuversicht, daß gesunder Menschenverstand, Geduld, guter Wille und Toleranz, die im vorigen Jahre größere und schwierigere Probleme lösen halfen, uns in Stand setzen werden, auch die gegenwärtigen Schwierigkeiten zu überwinden.“ Im Vorjahr sei es gelungen, einen Krieg und damit eines der größten Unglücke zu verhindern, „die je die europäische Zivilisation betroffen haben“.
Dass genau dieses größte Unglück nun unmittelbar bevorstand, konnte und wollte sich im Juli 1914 wohl niemand wirklich vorstellen.
Bei den Nachrichten über den Besuch des französischen Präsidenten Raymond Poincaré in Russland stehen im Teckboten vom 21. Juli 1914 die Trinksprüche im Mittelpunkt. Beschworen wurde damals das Bündnis der beiden Großmächte, ebenso das Ziel, „an der Erhaltung des Gleichgewichts und des Friedens in Europa“ mitzuarbeiten. Deutlich abgetan werden diese Reden anschließend in zwei kurzen Sätzen aus der „Vossischen Zeitung“: „Präsident Poincare sprach länger als der Zar. Er machte mehr Worte, sagte aber womöglich noch weniger.“
Am Samstag, 25. Juli 1914, blickt der Teckbote zurück auf die vergangene Woche. Das Ultimatum – offiziell „eine Note an Serbien“ – wird in seiner Bedeutung durchaus richtig eingeschätzt. Treffend bringt ein Zitat aus der Berliner „Morgenpost“ die Situation auf den Punkt: „Ob es gelingen wird, diesen anscheinend unvermeidlichen Krieg auf Oesterreich und Serbien zu beschränken, ob dieser Krieg nicht den Weltbrand verursachen wird, der lange schon unter der Asche glimmt, das ist die Frage in dieser Stunde [...], die sich heute Millionen vorlegen werden. Schon die nächste Zeit wird auf diese Schicksalsfrage die Antwort bringen.“
Interessant ist auch die folgende (Fehl)-Einschätzung in derselben Ausgabe: „Wir glauben, wir können getrosten Muts der nächsten Zukunft entgegenschauen, die Spannung hat sich ausgelöst, eine Klärung der Lage muß in den nächsten Tagen kommen. Wie sie ausfällt, davon hängt das Schicksal Europas ab; wird die europäische Gefahr diesmal noch hintangehalten […], dann lichtet sich der Horizont auf Jahre hinaus.“
Das lokale Geschehen lässt somit immer noch auf eine friedliche Zukunft hoffen. Dazu passt, dass am 20. Juli 1914 über eine mögliche Kürzung des Wehrbeitrags im Deutschen Reich spekuliert wird und dass es für Kirchheim kein wichtigeres Thema gibt als die bevorstehende Tagung des „Vereins der Württembergischen Körperschaftsbeamten“, die am letzten Juliwochenende – also am letzten Wochenende vor den Kriegserklärungen – in Kirchheim stattfindet.