Gökhan Arslan und seine Familie führen Schüler in der Alleenschule in die Welt des Kickboxens ein
Weltmeister gibt Trainingsstunde

Mucksmäuschenstill ist es in der Sporthalle der Kirchheimer Alleenschule. Mitten in der großen Arena sitzt eine Gruppe Schüler, die der Einladung des Hauptschultreffs
 Chilli gefolgt ist, und lauscht gebannt den Erzählungen von Gökhan Arslan. Der dreifache Kickbox-Weltmeister fesselt die Jugendlichen mit seiner Biografie, die er ungeschminkt, authentisch und ungemein sympathisch rüberbringt.

Kirchheim. Zum ersten Mal ist der türkischstämmige Nürtinger auf Einladung der Bruderhaus-Diakonie in offizieller Mission in Kirchheim. Ahmet Aksu arbeitet bei der gemeinnützigen Stiftung als Sozialpädagoge, Antiaggressionstrainer und Coolnesstrainer und ist Leiter des Chillis, der pädagogenfreien Zone in der Alleenschule. In seiner Fußball-AG soll an diesem Freitagnachmittag ausnahmsweise nicht gekickt, sondern erste Kickbox-Erfahrungen gesammelt werden. „Das ist eine einzigartige Möglichkeit, mit einem Weltmeister zu trainieren“, freut sich Ahmet Aksu mit seinen Schützlingen.

Zunächst erzählt Gökhan Arslan seine Geschichte. Als 17-Jähriger ändert sich für ihn alles. Ein schweres Erdbeben verwüstet seine Heimat und er entschließt sich, zu Verwandten nach Deutschland zu ziehen. „Was willst du in Neuffen?, fragte ich mich, als ich dort ankam. Ich konnte die Sprache nicht und hatte keine Arbeit“, erinnert er sich an den schwierigen Beginn. Drei Monate lang wartet er, bis der örtliche Discounter um 20 Uhr seine Pforten schließt. „Dann bin ich zum Container gegangen und habe nach Tomaten und Brot gesucht, die ich im Wald gegessen habe. Es war nicht einfach – ohne Eltern“, sagt der Kickboxer. Von dieser existenziellen Armut zu erzählen, ist ihm weder peinlich noch unangenehm. Er möchte den Jugendlichen vor Augen führen, dass jeder mit Leistung und Disziplin etwas aus seinem Leben machen kann.

Seine Hoffnung auf die Zukunft zahlt sich aus. Er findet bei einem Getränkehändler, später als Logistiker Arbeit und verdient sein Geld auch als Kfz-Mechaniker. Auch sonst kommt der Pragmatiker recht schnell mit dem Leben in Deutschland zurecht, auch wenn es eine andere Welt im Vergleich zu seinem anatolischen Dorf ist. „Es gab dort keine Schokolade oder Cola. Bis ich 17 Jahre alt war, habe ich zwei Bananen gegessen“, zeigt er die Unterschiede auf.

Zum Kickboxen kommt er erst spät im Alter von 24 Jahren und durch Zufall. „Schuld“ ist ein Cousin, der in Nürtingen eine Kampfsportschule mietet. „Weil ich handwerklich begabt bin, habe ich beim Umbau geholfen“, erzählt Gökhan Arslan. Als alles fertig ist und sämtliche Geräte stehen, testet er zum Spaß alles aus und drischt auch auf den einzigen Sandsack ein. Es macht ihm Spaß, und so beginnt er im September 2000 mit dem Training.

Seine Feuertaufe als Wettkampf-Kickboxer kommt völlig überraschend. In Nürtingen ist ein Kampf angesagt, die Halle ausverkauft, doch einer der Sportler fällt kurzfristig aus. Händeringend sucht der Veranstalter, ein Bekannter von Gökhan Arslan, nach einem 72-Kilo-Mann. „Das ist dein Gewicht. Du kämpfst“, bestimmt er kurzerhand über den Kopf des jungen Mannes hinweg, denn er will nicht den Zorn der enttäuschten Zuschauer auf sich lenken. Derart überrumpelt, fügt sich Gökhan Arslan, der zu diesem Zeitpunkt gerade mal drei Monate als Amateur trainiert hat. „Es war mir so peinlich, mit nacktem Oberkörper vor so vielen Menschen aufzutreten – ich bin in der Jacke in den Ring gegangen“, verrät er den Jugendlichen und hat damit die Lacher auf seiner Seite. Der Gegner ist Profi und der einzige Gedanke von Gökhan Arslan war: „Der zerlegt mich.“ Zunächst sucht er sein Heil in der Deckung. „Aus Angst habe ich dann irgendwann intuitiv zugeschlagen und mein Gegner geht tatsächlich zu Boden“, erzählt der Nürtinger, der völlig überraschend nach nur 38 Sekunden den Kampf gewinnt. „Das war Zufall“, sagt er bescheiden. Doch dieses Erfolgserlebnis beflügelt ihn und er beschließt, sich diesem Sport – ob so viel Naturtalent – intensiv zu widmen. Heute ist er nicht nur in der Türkei ein viel umjubelter Star, sondern auch in den Ländern, in denen Kickboxen beliebt ist, wie etwa Irland. Ein großes Vorbild ist Gökhan Arslan aber auch hierzulande bei Jugendlichen. Drei Weltmeistertitel krönen bislang seine Sportkarriere.

Starallüren sind dem 36-Jährigen jedoch mehr als fremd. Nicht nur mit den Schülern pflegt er einen unverkrampften Umgang, auch mit seinen Trophäen. Die Weltmeister-Gürtel hat er allesamt mitgebracht und die Jungs dürfen sie nicht nur gebührend bewundern, sondern sich auch umlegen und damit fotografieren lassen.

Zu der Trainingseinheit in der Alleenschule hat Gökhan Arslan seine ganze Familie mitgebracht. Ehefrau Meliha, ebenfalls Trainerin im eigenen Kampfsport-Studio in Esslingen, hält die ersten Kickbox-Gehversuche der Schüler mit der Kamera fest. Als „Vorkämpfer“ kommen die elfjährigen Zwillinge Selina und Taylan zum Einsatz, ebenso der zwölfjährige Deniz, der in seiner Altersklasse im Jahr 2011 in Karlsruhe schon Kickbox-Weltmeister wurde. Der Vater lobt die sanfte, geschmeidige Technik seiner Tochter Selina. Doch bei der Schlagkraft ist es mit der Sanftheit auch schon vorbei. Dank der nahezu perfekten Körperbeherrschung schafft das zierliche, 24 Kilogramm leichte Mädchen wie seine Brüder 600 Kilogramm mit dem Arm und über 1 000 Kilogramm mit dem Bein.

„Kampfsport hat nichts mit Gewalt zu tun. Wir trainieren Selbstbewusstsein und nicht, um uns draußen oder auf dem Schulhof zu verteidigen. Kickboxen ist und bleibt Sport“, stellt Gökhan Arslan klar. Er selbst bewegt sich gelassen auf der Straße. „Ich bin der Champ und brauche mich nicht provozieren zu lassen – ich habe die besten Kickboxer geschlagen und muss draußen keinem was beweisen“, redet er den Jungs ins Gewissen. Allerdings empfiehlt er Frauen und Mädchen ein Kickbox-Training aus Gründen der Selbstverteidigung.

Die Jugendlichen – auch ein paar Mädchen haben den Weg in die Sporthalle gefunden – dürfen jetzt zeigen, was in ihnen steckt. Dabei entpuppt sich Gökhan Arslan als Motivationstalent und holt das Maximum aus den Kids heraus. „Halten! – Halten!“, brüllt er mit einem verschmitzen Lächeln im Gesicht durch die Halle, als die ersten zu schwächeln beginnen und die Arme nicht mehr gerade halten können – und tatsächlich: Sie geben sich einen Ruck und strecken noch ein Weilchen die Arme. Eine andere Übung kündigt der Kickboxer mit den Worten an: „Die nächsten zwei Minuten werden verdammt lang sein. Wenn ihr durchhaltet, könnt ihr stolz auf euch sein.“ Die Bewegungen werden mit der Zeit zwar etwas langsamer und unkoordinierter, doch aufgeben kommt bei keinem in Frage. Bereitwillige Helfer bei den einzelnen Übungen finden die Kirchheimer Schüler in den Arslan-Kindern. Sie geben Tipps, korrigieren die Körperhaltung und zeigen, wie der perfekte Ablauf aussieht.

Am Ende des ausgefüllten Nachmittags sind nicht nur die Schüler begeistert. „Wie die Lämmchen sind auch die Erziehungshilfe-Kinder mit dabei“, freut sich eine Pädagogin.