Nürtingen. Bei starken Zahnschmerzen sollte Hilfe schnell zu finden sein, zumindest im Idealfall. Wann, wo und auf welche Weise geholfen wird, regelt die Notfalldienstordnung Baden-Württemberg. Allerdings kann sich die Suche nach Linderung im Kreis Esslingen ab 18 Uhr als kniffliger und langwieriger herausstellen, als zunächst angenommen. Denn eine Praxis, die werktags zum Notdienst eingeteilt ist, sucht man vergebens.
Um auf schnellstem Wege herauszubekommen, welche Praxis für dringende Fälle zuständig ist, dürfte die meisten Menschen der erste Schritt an den heimischen Computer führen. Und tatsächlich scheint Hilfe nur einen Mausklick entfernt: Mitte 2012 hat die Kassenzahnärztliche Vereinigung Baden-Württemberg (KZV BW) ein Notdienstportal eingerichtet, das schmerzgeplagten Patienten Hilfe vermitteln soll.
Doch hier wartet gleich der erste Dämpfer, denn Notdienst haben die Zahnarztpraxen im Kreis lediglich an Wochenenden und an Feiertagen.
Dass es werktags keinen flächendeckenden Notdienst gibt, liegt nicht etwa an einem Zahnärztemangel. Anders als bei den Ärzten gehen Deutschland die Zahnspezialisten nicht aus: „Wir werden in den nächsten 20 Jahren keinen Mangel haben“, prognostiziert Wilfried Sailer, Leiter der Bezirksdirektion Stuttgart der KZV BW. Es sei schlicht unwirtschaftlich, einen Notdienst unter der Woche einzurichten. „Dafür ist die Nachfrage einfach zu gering“, so Sailer.
Doch was, wenn der Schmerz so stark ist, dass eine Behandlung nicht bis zum nächsten Morgen warten kann? Also heißt es weitersuchen, schließlich sollte es doch eine Anlaufstelle geben, an die man sich wenden kann. Neben einer Auflistung von Zahnärzten, die am Wochenende zuständig sind, findet sich im Netz eine Telefonnummer der KZV BW, unter der man Auskunft über die Notdienst-Stellen im Kreis bekommen soll. Tatsächlich wird man ohne Wartezeit gleich verbunden. Die anfängliche Euphorie verfliegt jedoch, wenn sich die freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung als Bandansage entpuppt. Sie teilt einem lediglich mit, dass Notdienste nur an Wochenenden und Feiertagen in Anspruch genommen werden können. Einen vermeintlich brauchbaren Tipp gibt es am Ende doch noch: „In dringenden Notfällen können Sie sich an die Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie im Katharinenhospital wenden.“ Also auf nach Stuttgart, falls die Möglichkeit besteht, hinzukommen.
Doch bevor man übereilt losstürzt, sollte man sich darüber im Klaren sein, dass Notfall nicht gleich Notfall ist: „Hinter dem Symptom Zahnschmerzen verbergen sich verschiedene Diagnosen, die alle keine Notfälle im Sinne eines lebensbedrohlichen Zustandes darstellen“, so Wolfgang Löhl, Geschäftsführer der Bezirkszahnärztekammer Stuttgart. In solchen Fällen solle sich die Behandlung beim zahnärztlichen Notdienst auf die „Schmerzausschaltung“ beschränken.
Vor größeren Eingriffen, wie dem Entfernen eines Zahnes, sei sogar klar abzuraten: „Solche Eingriffe können sich nachts und am Wochenende leicht zu lang andauernden Operationen ausweiten“, warnt Löhl. Zahnärztliche Notfälle seien nur Unfallverletzungen, Nachblutungen nach chirurgischen Eingriffen sowie von den Zähnen ausgehende fieberhafte Entzündungen. Selbst hier beschränke sich die Behandlung in den meisten Fällen auf eine Notversorgung. „Das ist durchaus berechtigt“, urteilt Löhl, „da eine nächtliche Behandlung auch für den Notfalldienstverpflichteten in der Regel eine Ausnahmesituation darstellt.“ Zudem müsse der behandelnde Arzt nachts oft ohne qualifizierte Assistenz auskommen.
Wer dennoch eine Behandlung während der Notdienst-Zeit in Anspruch nehmen möchte, sollte sich, besonders an Wochenenden, auf lange Wartezeiten einstellen. Dass die schmerzlindernden Maßnahmen der Notdienste oft nur eine unbefriedigende Lösung darstellen, ist laut einer Nürtinger Zahnarztpraxis nichts Neues: „Patienten, die am Wochenende zu uns kommen, erzählen immer wieder, dass ihnen in der Klinik nur ein Schmerzmedikament verschrieben wurde.“ Oft sei dies aber nicht ausreichend.
Der ärztliche Leiter der Gesichtschirurgie im Katharinenhospital, Professor Dieter Weingart, kennt die Beschwerden der Patienten über den Notdienst und hält diesen für „defizitär“. Allerdings appelliert Weingart an die Patienten, den behandelnden Zahnmedizinern Verständnis entgegenzubringen: „Die Kollegen müssen sich um Notfälle kümmern, die nicht einzuplanen sind.“ Hinzu kommt, dass Patienten, die nachts eintreffen, psychisch oft angespannt seien: „Es passiert nicht selten, dass eine Behandlung nur unter Anwesenheit des Sicherheitsdienstes durchgeführt werden kann.“ Deshalb sei der Nachtdienst an Wochenenden und Feiertagen unter Ärzten sehr unbeliebt, weiß Weingart.
Zwar könne er durchaus verstehen, dass Zahnschmerzen sehr unangenehm sind, allerdings würden viele Patienten die Dringlichkeit einer Behandlung falsch einschätzen: „Wir haben ein sehr großes Einzugsgebiet, da müssen wir Prioritäten setzen.“ Im Gegensatz zu anderen Fällen könne man Zahnschmerzen gut überbrücken und deren Ursachen später behandeln. „Während des Notdienstes sind nur zwei Ärzte eingeteilt, die ihr Möglichstes tun, um jedem Patienten gerecht zu werden“, so Weingart.
Um den Notdienst zu verbessern, sieht Weingart nur einen Weg: „Es ist nicht möglich, dass die Diensthabenden noch mehr arbeiten.“ Stattdessen müsse der Notdienst personell aufgestockt werden. „Hierzu fehlen jedoch die finanziellen Mittel“, bedauert der Mediziner.
Derzeit findet eine Evaluierung des zahnärztlichen Notdienstes statt, in der der Unmut der Patienten berücksichtigt werden soll. Bis dahin dürften viele Schmerzleidende gut damit beraten sein, im heimischen Medikamentenschrank nach Linderung zu suchen, bis der Zahnarzt des Vertrauens am nächsten Morgen wieder seine Türen öffnet.