Mit Kunstaktionen auf Probleme von behinderten Menschen aufmerksam machen
Wenn eine Idee auf die Wirklichkeit trifft

Kirchheim. Die meisten der Installationen, mannshohe Pappfiguren mit einem schwarzen Kopf stehen noch senkrecht in der Fußgängerzone, aber lange werden sie dem Regen


nicht mehr standhalten, bald werden sie zusammenfallen. Ein schon etwas trostloser Anblick, die vom Regenwasser durchtränkten Pappkameraden des Künstlers Roland Kranz, er nennt sein Kunstwerk „some of those with a black head“. Einige Stunden zuvor, als er seine „Armee“ mit den schwarzen Köpfen noch trockenen Fußes raumgreifend in der Kirchheimer Einkaufsmeile aufstellte, war das Interesse groß und der Zusammenhang von Kunst und Inklusion erleb- und begreifbar. Aufmerksam machen auf die alltäglichen Probleme, mit denen Menschen mit Behinderungen zu kämpfen haben, „dazu müssen erst die Denkschablonen in den Köpfen durchbrochen werden“. Die inzwischen nass auf dem Boden liegenden Installationen sind mögliche symbolische Hinweise für die Zeit danach, wenn künstlerische Sensibilisierungsaktionen vielleicht nicht mehr notwendig sein werden.

Aber noch ist es nicht so weit, noch mangelt es vielerorts – auch in Kirchheim – beispielsweise an einem barrierefreien Zugang zu öffentlichen Einrichtungen, Ladengeschäften, Gaststätten oder Toiletten. Selbst der Besuch einer Gemeinderatssitzung ist für Rollstuhlfahrer ein schwieriges Unterfangen, ein barrierefreies Rathaus wäre schon mal ein Anfang, damit die Inklusion nicht nur ein politisches Lippenbekenntnis bleibt.

Das Umdenken hat sich das Mehrgenerationen Haus Linde nun auf die Fahnen geschrieben. Die Inklusionsoffensive in Kirchheim organisierte die Linde in Kooperation mit der Lebenshilfe Kirchheim, dem Aktionskreis für Menschen mit und ohne Behinderung und dem Kunstverein Kirchheim. Das Gemeinwesen zu sensibilisieren und den Inklusionsgedanken in Kirchheim zu verankern, sei die Zielsetzung des Mehrgenerationenhauses so der Leiter der Einrichtung, Matthias Altwasser. Der Input kommt also aus einem Haus, wo täglich Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Kulturen ein- und ausgehen. Der Zugang zu diesem Haus bleibt für Menschen mit Behinderungen jedoch verschlossen, ein fehlender Aufzug schließt Rollstuhlfahrer immer noch aus. Der mobile Treppenlift, umständlich und aufwendig zu handhaben, stellt sicherlich auf Dauer keine befriedigende Lösung dar. In einer älter werdenden Gesellschaft dürfte die Gegebenheit zunehmender körperlicher Handicaps sicherlich niemanden mehr überraschen.

Verblüffend auch die Aktion der Künstlerin Gabi Finkbein, Stoffbahnen aus Leinwand bedruckt mit verschiedenen Fußspuren, Abdrücken von Rollstühlen und Krücken, ausgebreitet vor dem Rathaus, ließ trotz Regen so manchen eiligen Passanten innehalten. Vom Rathausturm pünktlich zum halbstündigen Glockenschlag beginnt dann die Flashmop-Aktion. Aus allen Richtungen strömen Menschen, um sich zum Kreis zusammenzufinden, flugs werden die Regenjacken ausgezogen, darunter schwarze T-Shirts mit jeweils einem Buchstaben bedruckt. Jetzt müssen sich die Akteure nur noch schnell in die richtige Reihenfolge stellen und der Begriff Inklusion wird weithin sichtbar.

Das Wort „Inklusion“ – lateinisch inclusio, Einbeziehung –, entstand Ende des 20. Jahrhunderts in Großbritannien. Dort fand in den 80er und 90er Jahren eine umfassende Reform des Schulwesens statt. Kinder mit und ohne Behinderung sollten gemeinsam unterrichtet werden. Die Idee einer „effektiven Schule für alle“ (effective school for all) stand fortan im Vordergrund. Dieser Grundgedanke stand Pate für die „Salamanca-Erklärung der UNESCO von 1994, an der 92 Länder teilnahmen. In deren Folge setzte sich der Begriff „Inklusion“ weltweit durch, schließlich verabschiedete die UNO-Generalversammlung in New York 2006 die Behindertenrechtskonvention. Diese wird vielfach als herausragender Schritt zur Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen auch im Bildungssystem interpretiert. Mit der Ratifizierung Deutschlands 2009 ist dieses Dokument auch hierzulande rechtsverbindlich. Bei der Umsetzung einer grundlegenden Idee, wenn sie auf die Realität trifft, beginnen in aller Regel erst die konkreten Probleme, wie man derzeit unschwer der aktuellen Diskussion zum inklusiven Schulsystem entnehmen kann. Daher kann die Kirchheimer gemeinwesenorientierte Inklusionsoffensive sicherlich einen sinnstiftenden Beitrag leisten hin zu einem integrativen Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen.