Kirchheim. Der rüstige Rentner schreit „Du Idiot!“, und verpasst dem jungen Mann einen Fausthieb
auf die Brust. Eine andere Seniorin sagt: „Ihr dürft nicht nach einem Schlag aufhören. Und nehmt bloß keine Rücksicht.“ Bei dem einen Schlag bleibt es für Andreas Scheyhing ohnehin nicht: Nach dem ersten Schlag kommen noch sieben weitere.
Das ist so gewollt. An diesem Samstagmorgen sitzen acht Senioren im Stuhlkreis zusammen mit dem Vorhaben, etwas über das richtige Verhalten in Notsituationen zu erfahren. Gemeinsam mit zwei Trainern lernen sie einfache Techniken zur effektiven Selbstverteidigung. Der Kurs, der von der Familien-Bildungsstätte Kirchheim angeboten wird, trägt den Namen „Selbstverteidigung für Senioren und Menschen mit körperlicher Behinderung“.
Mit so großem Interesse haben nicht einmal die Kursleiter selbst gerechnet: „Letztes Mal wäre der Kurs fast ausgefallen, weil es nur zwei Anmeldungen gab und dieses Mal ist er voll.“ Das Trainerteam, das mit einigem Raunen empfangen wird, besteht aus Mutter und Sohn. Trainerin Scheyhing, die sich als Moni vorstellt, ist Anfang 60 und betreibt seit 20 Jahren Kampfsport. Wenn sie nicht gerade im Trainingscenter Modern Arnis, also philippinischen Stockkampf übt, arbeitet sie als kaufmännische Angestellte. Ihr Sohn, Andreas Scheyhing ist um die 30 und trägt den gleichen schwarzen Kampfsportanzug wie seine Mutter. Ohne den würde man kaum vermuten, dass er Karate, Wing Tsun und Stockkampf trainiert.
Die Gruppe der Teilnehmer setzt sich zusammen aus drei Frauen und fünf Männern. „Warum nehmt ihr denn am Kurs teil?“, fragt Andreas Scheyhing. „ Bei einer Situation im Zug, wie damals in der Nähe von München, wie soll ich mich am besten verhalten? Mich lieber raushalten, damit ich in nichts hinein gezogen werde, oder mich doch einmischen?“ ist die Antwort von Bernd Maier.
Eine andere Teilnehmerin berichtet von brenzligen Situationen, „die ich auf dem Friedhof und alleine im Wald erlebt habe.“ Gerhard Elsässer, ein weiterer Kursbesucher sagt: „Wir werden ja auch alle nicht jünger und das mit der Haltung und dem Gleichgewicht nicht besser.“ Diese Aussage wird mit zustimmendem Nicken kommentiert. „Man liest und hört ja auch immer öfter, dass jemand in unserem Alter überfallen und verprügelt wurde“, sagt ein anderer der Gruppe.
„Unser Wunsch ist es, euch zu zeigen, dass ihr euch wehren könnt. Man ist in keinem Alter ein Opfer und euer Vorteil ist, dass kein Angreifer mit Gegenwehr rechnet“, sagt Monika Scheyhing. Ihr Sohn fügt hinzu, dass es ja bei Überfällen nicht nur um die gestohlene Handtasche gehe, sondern um das Gefühl der Hilfslosigkeit.
Es geht los mit den Grundlagen: „Der Selbstschutz geht immer vor! Das oberste Gebot ist, niemals euer Leben zu riskieren, bei dem Versuch anderen zu helfen.“ Diese Empfehlung gibt die Polizei ebenfalls. „Und nachher werfen die einem vor, man hätte keine Zivilcourage!“ protestiert Bernd Maier, einer der Rentner, wild gestikulierend. Auch diesem Einwand wird ausnahmslos zugestimmt. Andreas Scheyhing ergreift das Wort: „Es ist zu einfach zu sagen, dass jemand keine Zivilcourage hat. In Notsituationen sind viele gelähmt und überfordert.“ In Gruppen kommt das Problem hinzu, dass jeder denkt, der andere macht das schon. „Deshalb ist es besonders wichtig, wenn der Schreck nachlässt, mit dem Organisieren anzufangen.“ Dabei sei es am besten, jemanden direkt anzusprechen. „Ruf du die Polizei, oder hilf du mir.“
Im Vogthaus ist aber nicht nur graue Theorie angesagt. „Für den Fall, dass ihr nicht mehr wegrennen oder die Situation verbal lösen könnt, haben wir ein paar einfache Abwehrtechniken für euch.“ Monika Scheyhing wiederholt an diesem Tag nicht nur einmal, dass „eine Deeskalation durch verbale Mittel immer das Ziel ist.“
Die praktischen Übungen beginnen mit Handgelenksbefreiungen und steigern sich dann zu Faustschlägen, Schienbeintritten und Zwicken. Andreas Scheyhing, der sich für Trainingszwecke schlagen lässt, wird prompt angegriffen. Mit einem lauten Fluch beginnt die Prügelattacke. Klaus Kiesgen, einer der beobachtenden Teilnehmer stellt fest: „Der Trainer muss doch nachher grün und blau sein.“ Aber nicht nur der Trainer darf als Versuchskaninchen herhalten, auch die „Kampfmäuse“ selbst, wie Monika Scheyhing die Kursteilnehmer nennt.
Bärbel Kotzke entfährt dabei das ein oder andere „Aua“, „Autsch“, oder „Das gibt einen blauen Fleck.“ „Noch mal langsam bitte, in Zeitlupe“, wünscht sich eine andere Kursteilnehmerin. Mit zunehmender Dauer der Übungen, werden auch immer mehr Fenster geöffnet. Nicht nur einer Teilnehmerin stehen die Schweißperlen auf der Stirn und der Geruch im Raum wird auch strenger.
Die Gruppe hat immer neue Ideen und Fragen zu Waffen und Kampftechniken. „Wie funktioniert ein K.o.-Schlag?“ „Wie kann ich einen Kugelschreiber als Waffe einsetzen?“ „Was darf man mit sich führen? Haarspray, Pfefferspray und Trillerpfeifen?“
Eine Teilnehmerin, die „Oberkampfmaus“, traut sich in einen Zweikampf mit Monika Scheyhing. Dieser endet mit zwei sich auf dem Boden rollenden Frauen und geht nicht ganz unblutig zu Ende. „Hat aber riesigen Spaß gemacht“, sagt die Mutige mit Kampffrisur. Manche Übungen testen die Schüler direkt an sich selber: Sie klatschen sich alle so fest wie möglich auf die Oberschenkel, um festzustellen in welcher Position „die Hand am meisten fetzt.“
Trotz all den Techniken und Tipps, gibt Monika Scheyhing am Ende der Veranstaltung zu bedenken, dass die Teilnehmer noch weit davon entfernt sind, alle Tricks in Stresssituationen anzuwenden. Dafür braucht es regelmäßiges Training, damit die Handgriffe verinnerlicht werden. „Das ist schon klar, aber wenn ich ein bisschen weniger ängstlich durch die Welt gehen kann, ist das was“, sagt eine Kursbesucherin, begleitet von den Jas der anderen.
