Neidlingen. Schon am Morgen ist es drückend heiß, die Pferde eilen schnellen Schrittes die steilen Feldwege hinauf. Die Tiere wollen zügig den Wald erreichen, um so den blutrünstigen Bremsen zu entfliehen, die sie zu Dutzenden auf der Suche nach einem geeigneten Landeplatz umschwirren, an dem sie sich festbeißen können. Dabei kommen die Begleitpersonen, die die Pferde aus Sicherheitsgründen am Zügel führen, ordentlich ins Schwitzen und merklich aus der Puste. Endlich im kühlen Tann angekommen, entspannt sich die Lage bei allen Beteiligten augenblicklich. Das Tänzeln und Schweifschlagen lässt rasch nach, die jungen Reiter sitzen entspannt im Sattel und die Fußgänger können wieder durchatmen. Doch plötzlich stockt der Tross. Die Nachhut schaut fragend nach vorn und entdeckt den Grund für den abrupten Halt: In wenigen Metern Abstand zu den ersten Pferden überqueren Rehe gemächlich den Forstweg in Halbhöhenlage und ziehen in aller Ruhe weiter den Steilhang Richtung Albhochfläche hinauf.
Es ist der dritte Tag der Natur- und Wildniswoche mit Pferden für Kinder und Jugendliche im Alter von 9 bis 14 Jahren, die Astrid Dielhenn und Katrin Schmid in Neidlingen anbieten. Die Teilnehmer sollen in den Tagen ein Gespür für die Erde und ihre Geschöpfe bekommen, sich in Natur und Wildnis geborgen fühlen, so das Ziel der beiden Frauen, die von zahlreichen Helfern unterstützt werden. Da ist zum Beispiel der Ehemann von Katrin, Hans-Peter Schmid, der einen leckeren Speiseplan zusammengestellt hat und täglich für die ganze Meute über dem offenen Feuer kocht, Salat schnippelt und leckeren Nachtisch zaubert. An einem Tag gibt es zum Beispiel Spaghetti mit Kräuter-Pesto. Die Zutaten dafür sammeln die jungen Teilnehmer unter Anleitung auf Wiesen und Kräutergärten einer befreundeten Neidlingerin selbst: Beinwell, Schafgarbe, Wilde Möhre, Dost, verschiedene Minze-Arten, Spitzwegerich, Löwenzahn und vieles mehr landet im Topf – und den überschüssigen Salbei verwandelt der findige Koch gar in Salbei-Chips. Dafür schwenkt er die einzelnen Blätter in einer Pfanne mit Öl, bis sie knusprig sind. „Das hat supergut geschmeckt“, lautet unisono das Urteil über diese natürlichen Köstlichkeiten, die direkt vor der Nase und ohne gärtnerische Fürsorge wachsen.
Mit von der Partie ist bei den Betreuern auch Katharina Philipp, die mit einem Freund extra aus der Nähe des Bodensees hergeritten ist, um mit zwei Bardigiano-Stuten – robuste und ruhige Gebirgspferde aus den nördlichen Apenninen in Italien – das Team zu verstärken. Die übrigen Pferde sind im Besitz der beiden Organisatorinnen. Neben dem Spaß am Reiten ist es Astrid Dielhenn und Katrin Schmid wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen lernen, Verantwortung gegenüber den Tieren zu übernehmen und in letzter Konsequenz auch gegenüber der Natur. „Zunächst gab es eine allgemeine Einführung. Wir haben beispielsweise erzählt, wie die Steinzeitmenschen einst hier lebten und wie der Alltag der heute noch lebenden Urvölker aussieht“, erzählt Astrid Dielhenn. Es ging aber auch um ganz praktische Dinge: Wie man sich beispielsweise dem Fluchttier Pferd nähert, ohne es zu erschrecken, weil man unter Umständen sonst selbst in Gefahr gerät.
Der Umgang mit den großen Vierbeinern funktioniert am dritten Tag bereits reibungslos, die Handgriffe sitzen und jeder hat sein Lieblingspferd gefunden. Jetzt ist es fast Mittag, der kühle Wald liegt hinter Mensch und Tier und die Sonne sticht unbarmherzig auf den Südhang. Bevor der eigene Durst gestillt wird, sind die Pferde an der Reihe. Sie werden abgesattelt, getränkt und zum Schutz vor lästigen Insekten mit Bremsenöl eingesprüht oder in luftige Decken gehüllt. Erst dann steuern die Kinder und Jugendlichen das Reich von Hans-Peter an. Seine Küche besteht aus einer Feuerstelle, Biertischgarnitur und einer flatternden Plane, die leidlich Schatten spendet. Während er Tomaten für den Salat zerkleinert, röstet die Nussmischung über dem Feuer und verströmt einen leckeren Duft.
Doch bis zum Mittagessen ist es noch ein Weilchen hin, es bleibt Zeit zum Spielen, Faulenzen oder Erzählen, denn die Nacht war spannend gewesen – und kurz. Sie begann mit einer Wanderung, bei der mancher Waldbewohner zwar zu hören, aber nicht zu sehen war. Doch damit nicht genug: Es stand noch eine Übernachtung auf der Koppel an. Auch wenn genügend Zelte – einschließlich eines großen Tipis – zur Verfügung standen, zogen es alle Freizeitler vor, unter freiem Himmel zu schlafen. Tief geschlummert haben bei dieser Art des Nachtlagers die wenigsten. Ungewohnte Geräusche ließen die Kids immer wieder aufschrecken und in die vom Vollmond erleuchtete Nacht lauschen. Ein „Krachmacher“ waren die Pferde, die in direkter Nachbarschaft auf der Weide standen und ständig in Bewegung waren, Käuzchen schrien und der Wind ließ die Blätter und das „Küchendach“ rauschen.
Als das Stichwort „Kuckuck“ ertönt, strömen von allen Seiten die hungrigen Kinder zum Essenfassen in Richtung Verpflegungsstation. Wer auf ein Mittagsschläfchen hofft, wird enttäuscht. Mit Wasserflaschen bewaffnet geht es in den Wald, wo eine Waldläuferhütte gebaut werden soll. Dabei handelt es sich um eine enge, aber praktische Behausung, die zu hundert Prozent aus Naturmaterialien besteht und seinen Erbauer bis zu 15 Grad unter Null nicht erfrieren lässt. Zunächst heißt es, eine geeignete Stelle für das Häuschen zu finden. Die soll eben sein, an keiner „Wildschweinstraße“ liegen und die Öffnung gen Osten platziert werden, um die ersten warmen Sonnenstrahlen des Tages einfangen zu können. Außerdem ganz wichtig: Die Baustoffe Laub und Äste sollten aus praktischen Gründen nicht allzu weit entfernt zu finden sein. Als der Platz gefunden ist, machen sich alle auf die Suche nach langen und kurzen, dicken und dünnen Ästen. Einige müssen in der richtigen Höhe gegabelt sein, damit sie ein stabiles Kreuz für den „Dachfirst-Ast“ bilden können, der ebenfalls eine bestimmte Mindestlänge haben muss. Dafür gibt es eine einfache Regel: Je größer der Mensch, desto länger der dicke Ast. Das eine Ende wird fest in den Boden gerammt, das andere auf dem etwa kniehohen Kreuz justiert, sodass eine Schräge entsteht. Viel Luft soll nicht zwischen Schläfer und Decke sein – der Wärmeverlust wäre zu groß. Die beiden Seiten werden nun dicht mit entsprechend langen Ästen geschlossen, auf die eine dicke Lage trockenes Laub kommt. Damit das beim nächsten Windstoß nicht gleich wieder wegfliegt, bedarf es nochmals einiger Äste als Abschluss. Und weil ein müder Waldläufer weich, trocken und isoliert liegen will, bedarf es nochmals einer ordentlichen Ladung Laub. Es zu sammeln ist eine recht mühselige Angelegenheit, wie alle Beteiligten feststellen müssen. Doch am Spätnachmittag stehen gleich mehrere Hütten im Wald. Die Mädchen entschieden sich für eine geräumige und formschöne Sommerhütte, eine Gruppe nutzte einen umgefallenen Baum als stabiles Dach, und ein Junge gab seiner Individualität mit einer eigenen Konstruktion Ausdruck.
Übernachten müssen die wilden Kids nicht ihren selbst gebauten Hütten. Es geht zurück zu den Pferden, und im Tipi findet zügig die Tagesabschluss-Runde statt, denn am Dorfrand warten schon die Eltern, um ihren Nachwuchs abzuholen, den eine ruhige Nacht im vertrauten Bett erwartet.