Der Theologe Albrecht Esche sprach im Kirchheimer Kornhaus über Hermann Hesse
Wie Hesse dem Pietismus entflieht

Kirchheim. Hesse zieht immer. Die Veranstaltungen des Literaturbeirats finden gewöhnlich im „Schulraum“ des Max-Eyth-Hauses statt. In weiser Voraussicht wurde der Vortrag


über Hesse ins Kornhaus verlegt, denn es kamen scharenweise Zuhörer. Der Publikumsandrang ist nicht nur Hesse zuzuschreiben, sondern auch dem Ruf des Referenten als kompetentem und lebendigem Redner. Albrecht Esche ist Theologe, hat Erfahrung im Pfarrberuf und war viele Jahre Studienleiter an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Er ist Hesse-Kenner und fühlt sich dem Autor besonders verbunden, auch weil er wie dieser seine Jugend in Calw verlebt hat.

Gastgeberin Renate Treuherz nannte in den einführenden Worten unglaubliche Zahlen. Dieser Hermann Hesse, der sich ein paar Tage in Kirchheim aufhielt, sich in eine Wirts­tocher verliebte, dies in einer Novelle verarbeitete und der deshalb im Kirchheimer Literaturmuseum einen Platz hat, wurde in 70 Sprachen ­übersetzt – wahrlich ein Autor der Weltliteratur.

Der sechzigjährige Hesse gibt im Rückblick folgende Auskunft: „Meine Erziehung war nicht leicht und sanft, trotz der unerschöpflichen Liebeskraft der Mutter und dem ritterlichen, delikaten und zarten Wesen des Vaters. Streng und hart waren nicht sie, sondern das Prinzip. Es war das pietistisch-christliche Prinzip, dass des Menschen Wille von Natur und Grund aus böse sei, und dass dieser Wille erst gebrochen werden müsse, ehe der Mensch in Gottes Liebe und in der christlichen Gemeinschaft das Heil erlangen könne“.

Diese Selbstaussage hat das Bild von Hesses Verhältnis zum Pietismus geprägt. Albert Esche ist angetreten, um diese negative Rolle des Pietismus zu differenzieren, indem er Hesses Biografie und sein Werk hinterfragt. Bei der Biografie kam der Referent sogar auf die Großeltern zu sprechen – aus einleuchtendem Grund: Der Großvater mütterlicherseits, für Hesse „das größte Erlebnis seiner Kindheit“, war ein gottergebener, aber weltläufiger Mensch, Missionar in Indien und genialer Sprachforscher mit internationalen Kontakten. Sein Großvater väterlicherseits war ein Lebemann, der Gott und den Wein liebte. Der Vater blieb mit seiner baltischen Herkunft auch im Dienst der Basler Mission ein Fremdling.

Das Bild eines dogmatischen Pietismus erfüllt am ehesten seine Mutter Marie, über die gesagt wurde, sie habe nur Psalmen und Choräle geliebt und sei jeder Sinnlichkeit abhold gewesen. Esche will mit dieser Ahnengalerie sagen: Der 1877 in Calw geborene Hermann hat nicht nur die Enge einer Kleinstadt und des Pietismus kennengelernt, sondern einen „kulturellen Reichtum“ erfahren, „der weit über den württembergischen Horizont hinausreicht. Mit diesen religiös-kulturellen Ambivalenzen muss sich Hesse ein Leben lang auseinandersetzen, persönlich leidend, aber literarisch profitierend“.

Die Gefangenheit im doktrinären Pietismus zeigte sich in erschreckender Weise bei der Mutter nach der Flucht ihres Sohnes aus der „Zuchtanstalt für künftige württembergische Theologen“, dem Seminar Maulbronn. Sie wünschte sich eher den Tod des Sohnes, als dass er sich „etwas Böses“ hätte zuschulden kommen lassen. Dass Hesse aber in Maulbronn nicht nur Schaden genommen hat, belegen „Verklärungen“ in den Romanen „Narziss und Goldmund“ und „Das Glasperlenspiel“ und das Gedicht „Im Kreuzgang“, zweiundzwanzig Jahre nach der Kloster­schule verfasst.

Nach dem Rauswurf aus Maulbronn landet Hermann Hesse in Bad Boll bei Christoph Blumhardt. Der Sohn des legendären Johann Christoph Blumhardt lebte in der Utopie, dass es möglich sei, schon auf Erden das Paradies errichten zu können, und schloss sich der Arbeiterklasse und der SPD an. „In Bad Boll begegnete Hermann Hesse einer geistigen Welt, die die Engführung, ja die Engstirnigkeit traditionell-pietistischer Frömmigkeit total überwindet“, betonte der Referent. Trotzdem enden die „sechs seligen Wochen in Boll“ in einem Fiasko: Wegen einer Selbstmorddrohung aufgrund einer unerwiderten Liebe zu einer älteren Frau wird der Fünfzehnjährige in die Behindertenanstalt Stetten im Remstal geschickt – dass Blumhardt den jungen Hermann fortschickt, macht ihn mitschuldig.

Hier brach Esche den Gang durch die Jugendzeit ab und schlug den Bogen „zu der fernöstlichen Welt mit ihren sinnlichen Eindrücken“, die bei Hesse ihren Niederschlag in ­„Siddhartha“, der „indischen Dichtung“, findet. Esche konstatiert: „Die Erzählstruktur ist relativ einfach, etwas despektierlich könnte man sie mit pietistischer evangelikaler Traktatliteratur vergleichen: Sohn aus reichem Haus gerät auf Abwege, bis er letztlich seinen eigenen Weg findet“. Hesse vermittelt seine Botschaft: „Werde, der du bist“ und gibt der Nachkriegsgesellschaft in den USA und später in Europa eine höchst willkommene Orientierungshilfe.

Auch mit der chinesischen Religiosität beschäftigte sich Hesse intensiv. Dies ist vor allem dem Einfluss von Richard Wilhelm zu verdanken, dem Schwiegersohn Christoph Blumhardts. Wilhelm reiste als Missionar nach China. Ergebnis: Er wurde ein bedeutender Sinologe. Sein symbolträchtiges Grabmal ist heute noch auf dem Boller Friedhof zu finden. Und das ist das Sensationelle und Progressive: Der Schwiegervater bestärkte ihn, seine Missionsarbeit zu vergessen: „Nicht mehr der Christ oder Mohammedaner oder Buddhist, sondern der rechte Mensch wird die Erscheinung der zukünftigen Religion sein“. Esche: „So gilt Richard Wilhelm als Entdecker der geistigen Welt Chinas und als der große Vermittler asiatischer Weisheitslehren. Hesse kannte ihn persönlich und schätzte ihn“.

Zu den asiatischen Weisheitslehren gehört zentral das schöpferische Yang- und das empfangende Yin-Prinzip. Das Leben besteht aus polar entgegengesetzten und dennoch aufeinander bezogenen Kräften. Das Orakel I Ging, im „Glasperlenspiel“ ausführlich beschrieben, geht von einem Wesensgesetz jeder Handlung aus und bleibt auch für den Autor geheimnisvoll.

Im Gedicht „Welkes Blatt“ empfiehlt das lyrische Ich dem Blatt, sich „nach Hause“ wehen zu lassen. Esche spürt in diesem Text den Geist des Taoismus und entdeckt ­abendländische Bezüge. Der kontemplative Mensch sehnt sich danach, „nach Hause“ zu kommen, in der Dichtungstradition sehr stark in der Romantik. In der pietistisch-christlichen Tradition ist es die Sehnsucht, zum Vater „nach Hause“ zu kommen.

Bei seinem Fazit verfällt Esche in den Potentialis mit Fragezeichen, denn die These ist gewagt: „Könnte es sein, dass Hesse Merkmale seiner geistigen Traditionen und seiner religiösen Wurzeln übernommen und chinesisch transformiert hat? Gießt also Hesse alte abendländische Essenzen, sozusagen einen schwäbisch-pietistischen Wein nur in neue chinesische Schläuche?“ Damit überwinde Hesse die Wunden, die er von einer negativen pietistischen Weltsicht empfangen habe. Aus der Ambivalenz ist nun eine Einheit hinter den Gegensätzen geworden.