Gegen alle Widerstände und Bedenken: Die Zweigeisenbahn war vor 150 Jahren ein echtes Kirchheimer Bürgerprojekt
Wie Kirchheim den Fortschritt „angebahnt“ hat

Kirchheim. Im Unterschied zu vielen Staaten, die den Eisenbahnbau Privatunternehmen überließen, hatte das Königreich Württemberg diese Aufgabe zu einer Angelegenheit 


des Staates erklärt. Das Eisenbahngesetz von 1843 legte die Haupt­linien fest, schloss aber auch Privatbahnen nicht aus. Im Vordergrund standen die großen Transferlinien. Es zeigte sich allerdings bald, dass die an den Bahnlinien liegenden Städte von dem neuen Transportmittel Eisenbahn stark profitierten, während die nicht angeschlossenen ins Abseits gerieten.

So ist es nur logisch, dass die Verantwortlichen der Stadt Kirchheim sich darum bemühten, dass Kirchheim beim geplanten Bau der oberen Neckarbahn von Plochingen nach Reutlingen an die Bahnlinie angeschlossen würde. Die Kirchheimer Delegation mit den Fabrikanten Schüle und Faber, mit Stadtschultheiß Heim, Stadtpfleger Jakob und mit dem Oberamtmann Idler sprachen 1853 bei Finanzminister Knapp vor, wurden aber ungnädig abgewiesen.

Ob außer den unstreitig technischen und finanziellen Schwierigkeiten auch politische Gründe eine Rolle spielten, ist schwer zu sagen. Immerhin hatte sich Kirchheim in den letzten fünf Jahren bei der Obrigkeit sehr unbeliebt gemacht. Nicht nur hatte sich die Stadt in den unruhigen Zeiten 1848/49 als Zentrum der revolutionären Umtriebe erwiesen, die Kirchheimer Bürger hielten auch noch in den drei Landtagswahlen, die nach freiem und gleichem Wahlrecht abgehalten wurden, hartnäckig an den jeweiligen oppositionellen Kandidaten fest, bis die Regierung schließlich das vormärzliche Wahlrecht wieder einführte.

Dass die württembergische Regierung sich selbst beim Bahnbau von politischen Gesichtspunkten leiten ließ, zeigte sich bei der Audienz am 30. April 1856, als eine Reutlinger Delegation bei König Wilhelm I. und Finanzminister Knapp vorstellig wurde und endlich auch an das Eisenbahnnetz angeschlossen werden wollte. Der Finanzminister begründete die Verzögerung des Bahnbaus unverblümt als politische Vergeltungsmaßnahme wegen der Ereignisse während der Revolutionsjahre. 1859 wurde Reutlingen schließlich mit der oberen Neckarbahn von Plochingen über Nürtingen und Metzingen ans Eisenbahnnetz angeschlossen. Die Kirchheimer blieben auf sich allein gestellt und ließen auf eigene Initiative im gleichen Jahr von einem Eisenbahnfachmann eine mögliche Trasse für eine Zweigbahn von Unterboihingen nach Kirchheim vermessen und die Kosten berechnen.

Nach allgemeiner Meinung waren Zweigbahnen unnötig, das flache Land sollte über Straßen an die Eisenbahnlinien angeschlossen werden. Gutachter und Ingenieure, Eisenbahndirektion, Regierung und Landtag waren sich einig, dass eine Zweigbahn nie rentabel zu betreiben sei. Trotzdem unternahmen Amtsversammlung und Gemeinderat einen neuerlichen Versuch und wandten sich an das Innenministerium.

In dem Anschreiben vom 14. August 1860 heißt es, dass die „unmittelbare Teilnahme an dem großartigen Verkehrsmittel“ eine „früher nie geahnte Schnelligkeit und Wohlfeilheit des Verkehrs“ herbeiführten. „Handel und Industrie bemächtigen sich desselben in der Art, dass der kleinste Kostenunterschied sich bei dem Absatz der Produkte und Waren in Beziehung auf die Ausdehnung des Absatzgebiets fühlbar macht.“

Wenn es die Terrainverhältnisse zuließen und wenn man nicht am Haupteisenbahnnetz liege, sei man mit diesem durch eine Zweigbahn zu verbinden, so wie es in industriereichen Gebieten schon die Regel geworden sei, „dass für jede größere Fabrik eine eigene Seitenbahn angelegt ist, wie wir dies z.B. in einzelnen Tälern von Schlesien, Sachsen, Westfalen und Rheinpreußen finden. Die Anlage solcher Seitenbahnen wird […] für eine Lebensbedingung der Industrie gehalten.“

Angesichts der ablehnenden Haltung von Regierung und Landtag, auf Staatskosten eine Stichbahn zu bauen, bot man an: „Statt auf die möglicherweise später auszuführende Erbauung von Seitenbahnen zu warten, dürfte es für diejenigen Bezirke, welche in einer Eisenbahnverbindung eine Lebensfrage für ihr Gedeihen erblicken, ratsamer sei, die Herstellung selbst in die Hand zu nehmen.“ Diese Bezirke dürften nicht zuwarten, „bis sie in Folge des mangelnden Anschlusses überflügelt und zurückgedrängt sind, sie müssen dem Rückschritt vorbeugen und den Fortschritt anbahnen, solange sie noch auf der Höhe ihrer Entwicklung stehen und solange die noch immer gewaltiger sich ausdehnenden Schienen-Straßen noch nicht die Zahl ihrer Konkurrenten auf dem Weltmarkt unendlich vervielfältigt haben“.

Die Antragsteller erwähnen die unterschiedlichen Entwicklungsstufen, die sich aus Gegenden mit und ohne Eisenbahn ergäben, und geradezu weitsichtig wird auf die Rolle der Zeit im Geschäftsleben verwiesen: „Jeder Kreuzer, um welchen ein Produzent billiger verkaufen kann, erweitert sein Absatzgebiet nach den Richtungen hin, wo er mit dem Angebot von Produzenten derselben Art zu kämpfen hat und jede Viertelstunde, ja fast jede Minute Zeitgewinn wird von Geschäftsreisenden in Anschlag gebracht.“ Trotz der Aufzählung aller Vorteile, die Kirchheim zu bieten hatte, wurde sowohl der Bau auf Staatskosten als auch der staatliche Betrieb einer durch eine Aktiengesellschaft finanzierten Bahn am 4. Oktober 1860 abgelehnt. Dazu beigetragen hat sicher die Skepsis von König Wilhelm I., dem der Finanzminister seine ablehnende Haltung vorgetragen hatte. Seine Majestät konnten sich im Kirchheimer Fall allenfalls eine Pferdebahn vorstellen, den Betrieb durch den Staat in keinem Fall. Auch die „Zentralstelle für Gewerbe und Handel“ unter ihrem einflussreichen Präsidenten Ferdinand von Steinbeis hatte für eine Pferdebahn plädiert.

Wiederum ließen sich die Kirchheimer nicht entmutigen, das Komitee reagierte schnell und stellte, ausgehend vom Gesetz von 1843, einen Antrag auf Genehmigung einer Aktiengesellschaft zum Bau und Betrieb einer Privatbahn. Kritiker hielten diese für nicht lebensfähig und verwiesen auf viele gescheiterte Privatbahnen außerhalb Württembergs. Die Kirchheimer argumentierten mit der bedeutenden Industrie, dem Wollmarkt, der blühenden Landwirtschaft. Für das Projekt sprächen auch die günstigen Geländebedingungen, man brauche keine teuren Kunstbauten, die Lokomotiven sollten mit Torf beheizt werden, den es im Bezirk in reichem Maße gebe, auch wolle man alles selbst bezahlen und nicht der Staatskasse zur Last fallen.

In der Ständekammer gerieten die Diskussionsredner heftig aneinander. Das Bahnprojekt sei ein „ungenügendes“, ein „höchst unzweckmäßiges“, ein „verfehltes“, man wolle den Kirchheimer Bezirk nicht mit einem „verkrüppelten, verfehlten unlebensfähigen Stückchen Seitenbahn“ beglücken. Bei einer Pleite müsse dann doch der Staat einspringen. Die volkswirtschaftliche Kommission, die den Fall der Kirchheimer Eisenbahn verhandelte, hatte als Berichterstatter den sehr einflussreichen und fachlich untadeligen Abgeordneten Moritz Mohl bestimmt, einen scharfen Gegner des Zweigbahnprojekts. Das war umso unglücklicher, als Mohl sich für den Bau der Neckarbahn bis Reutlingen eingesetzt hatte. Im Fall Kirchheim sparte sein Bericht nicht mit allen erdenklichen Negativargumenten.

Die Volkswirtschaftliche Kommission empfahl dem Plenum deshalb auch einstimmig die Ablehnung des Antrags. Die beiden Kirchheimer Fürsprecher, der Abgeordnete und Stadtschultheiß Heim sowie der Kirchheimer Oberamtmann und Abgeordnete des Bezirks Münsingen, Idler, warfen sich mutig in die Bresche. Sie mussten allerlei gehässigen Spott ertragen, aber schließlich gelang es ihnen, das Plenum zur Zustimmung zu bewegen. Der Abgeordnete Grath­wohl brachte es auf den Punkt: Er glaube zwar auch, dass sich die Kirchheimer Bahn nicht rentiere, aber die Gerechtigkeit gebiete, die Kirchheimer gewähren zu lassen.

Die „Schwäbische Kronik“ meldete am 25. September 1861: „Der Antrag Heims, die Regierung zu ersuchen, das Projekt der Privatbahn nach Kirchheim nicht zu erschweren, wird mit 67 gegen 18 Stimmen genehmigt“. In Kirchheim erweckte die Nachricht großen Jubel, und am folgenden Wochenende feierten die Bürgergesellschaft, der Liederkranz, die Musikgesellschaft und zahlreiche Bürger aus allen Schichten den glänzenden Sieg. Höhepunkt war ein Fackelzug, den man Heim und Idler darbrachte. Der Teckbote betonte den bürgerlichen Charakter der Veranstaltung: „Wohl erinnert sich Kirchheim imposanter Fackelzüge, die zu Ehren fürstlicher Personen veranstaltet wurden, dieser aber zeichnete sich dadurch aus, dass er aus der Mitte, aus der Seele der Bürgerschaft beschlossen und ausgeführt wurde.“

Die erste Etappe war geschafft, jetzt galt es, die Konzessionserteilung zu erlangen, und dazu musste die Finanzierung gesichert sein. 350 000 Gulden waren veranschlagt, 50 000 wollte das Oberamt, also der Kreis, 25 000 die Stadt Kirchheim beisteuern. Es verblieben immer noch 275 000 Gulden, die die Bürger aufbringen sollten: ein äußerst gewagtes Unternehmen. Niemand wusste, ob die Bürger sich auf ein so riskantes Geschäft einließen. Es gab keine Vorbilder, niemand hatte Erfahrung mit einer Privatbahn, schon gar nicht mit Aktien, und die negativen Äußerungen der Fachleute streuten Zweifel.

Der Vorsitzende des Komitees, Fabrikant Schüle, zögerte nicht, in seinem Aufruf zur Aktienzeichnung an das Ehrgefühl der Bürger zu appellieren. So wie man „die Kritik des Herrn Mohl und anderer Herren der Kammer siegreich bestanden“ habe, so sei auf ein Resultat zu hoffen, „das eine annehmbare Rente verspricht“. Ausgegeben wurden Aktien von 500 Gulden, im Hinblick auf die doch sehr bescheidenen Einkommensverhältnisse der meisten Bürger ein sehr hoher Betrag. Ein Volksschullehrer verdiente 350 bis 400 Gulden im Jahr, ein Tagelöhner einen Gulden pro Tag. Ein Brot kostete 13 bis 15 Kreuzer, eine Aktie entsprach also dem Wert von 2 000 Broten.

So war es kein Wunder, dass die erste Zeichnungsliste vom 24. Juli 1862 die Wohlhabenderen und Prominenten der Stadt umfasste. Unter den 27 Namen waren acht Gemeinderäte, vier Fabrikanten, der Stadtschultheiß und der Stadtpfleger, verschiedene Gastwirte. Vier Tage später waren schon 76 Aktien gezeichnet. Die Namenslisten sind erhalten und zeigen bis zur fünften Zeichnungsliste einen Querschnitt durch die Kirchheimer Bürgerschaft, vorwiegend Handwerker, auch Auswärtige und sogar zwei Schulmeister. Die Listen erweisen, dass die Kirchheimer die Eisenbahn zu ihrer Sache gemacht hatten und sich opferbereit und gemeinschaftsdienlich verhielten. Es traf sich gut, dass 1862 die volle Gewerbefreiheit eingeführt wurde und alle Zünfte aufgelöst wurden. Aus ihrem Vermögen stifteten verschiedene Zünfte Aktien an das Wilhelmspital, an die gewerbliche Fortbildungsschule oder an den Gewerbeverein. Bei Zeichnung der Aktie waren zehn Prozent sofort zu bezahlen, die folgenden Raten wurden nach Maßgabe des Bedarfs fällig.

Dass die Privateisenbahn ein Erfolg würde, war keineswegs ausgemacht, wie der Misserfolg der Aktiengesellschaft Maschinenfabrik Kirchheim wenige Jahre später zeigt. Am 28. November 1862 konnte Schüle die Zeichnung von 408 Aktien bekannt geben. Insgesamt erreichte der bürgerliche Finanzierungsanteil 64 Prozent der Investitionssumme. Den verbleibenden Rest von 60 000 Gulden gewährte der Kronprinz zu niedriger Verzinsung. Am 18. Dezember hatten er und seine Mutter, Königin Pauline, dem Komitee eine Audienz gewährt. Beide waren, anders als der König, dem Projekt sehr zugetan und stellten jede Förderung in Aussicht.

Am 5. März 1863 kam es zur konstituierenden Generalversammlung einer „Aktiengesellschaft zum Behuf der Erbauung und des Betriebs einer Eisenbahn zwischen der Stadt Kirchheim (Teck) und der Staatseisenbahnstation Unterboihingen“. Am 12. August folgte die Konzessionserteilung und am 8. März der erste Spatenstich. Der Erwerb der benötigten Grundstücke wurde nach den Grundsätzen der Staatsverwaltung behandelt und mit Hilfe von sachverständigen Schätzern vollzogen. Bei 15 Kaufverträgen gab es Meinungsverschiedenheiten, 14 konnten gütlich erledigt werden. Ein Fall, ein im Weg stehendes Haus mit Scheuer, wurde der Königlichen Eisenbahnkommission zur Entscheidung vorgelegt. Sie legte die Entschädigungssumme fest, und das fragliche Gebäude wurde in wenigen Tagen abgebrochen. In unglaublich kurzer Zeit waren Grunderwerb und Bau erfolgt: Bereits am 20. September 1864 wurde die 22 000 Fuß oder 6,26 Kilometer lange Bahn mit einem „pompösen“ Stadtfest eröffnet. Bürgerlicher Wagemut hatte über bürokratische Bedenken und obrigkeitlichen Widerstand gesiegt.

Der Eisenbahnbetrieb wurde programmgemäß aufgenommen, das Bahnhofsgebäude fertiggestellt. Die von der Cannstatter Firma Decker gebaute Drehscheibe im Bahnhofsgelände bestand ihre Belastungsprobe mit Bravour, ebenso die von der Dettinger Firma Traub gefertigte eiserne Brücke über die Lauter beim „Löwen“, in der „Eisenbahnstraße“. Das Gutachten der „Zentralstelle“ hatte schon den Modellcharakter des Kirchheimer Eisenbahnprojekts betont. In der Tat blickte man in den benachbarten Seitentälern mit großem Interesse auf das Erfolgsmodell Kirchheim. Aber bei keiner der dort angestrebten Seitenlinien, weder im Neuffener Tal noch im Erms- oder Echaztal, gelang es, mit einem so großen bürgerlichen Finanzierungsanteil das Projekt zu verwirklichen.