Der Neurobiologe Henning Beck sprach in der Buchhandlung Zimmermann über neue Erkenntnisse der Hirnforschung
Wie unser Gehirn wirklich tickt

Kirchheim. Nach einer kurzen Vorstellung durch Sibylle Mockler sprudelt er in der voll besetzten Buchhandlung auch schon los: Henning Beck liebt die Bühne, er liebt den


Applaus und er liebt es, seine Forschung aus dem Labor heraus in die Welt zu tragen. Hirnforschung ist hip und modern – und kompliziert. Deswegen will er sie so präsentieren, dass sie jeder versteht. Wissenschaft und humorvolles Entertainment werden kombiniert und ergeben eine aufregende Reise in die Welt der grauen Zellen. Henning Beck spricht ein „Grußwort an das Gehirn“ und bezeichnet es als das Wunderwerk schlechthin. Dabei verweist er sofort auf die Mythen, die sich um dieses „sagenumwobenste Organ“ ranken. Was ist dran?

Sechs populäre Legenden („Lieblingsmythen“) über das Gehirn wurden von ihm unter die Lupe genommen. Erstens: „Das Gehirn rechnet wie ein Computer“. Des Öfteren höre man, das Gehirn sei die perfekte Rechenmaschine. Doch: Wo die Fähigkeit eines Computers ende, beginne die Stärke des Gehirns: Bilder malen, Gedichte schreiben, Pink Floyds Musik toll finden – „auf solche Ideen kommen nur Gehirne“. Sie seien leistungsfähiger und damit ganz besonders effektive Denkmaschinen, die außergewöhnlich schnell und präzise reagieren können. Der Gehirn-Computer-Vergleich hinke also gewaltig. Bis heute sei es nicht gelungen, die Prozesse in unserem Gehirn auch nur annähernd im Computer nachzubilden.

Zweitens: „Unsere Gehirnhälften denken unterschiedlich.“ Die Mär von einer „logischen, analytischen, mathematischen linken Gehirnhälfte“ und einer rein „künstlerischen, kreativen rechten Gehirnhälfte“ sei überholt. Alles deute darauf hin, dass zwar Informationen (zum Beispiel die Sprache) in den Hälften unterschiedlich verarbeitet werden, dass aber bei Kreativität das ganze Gehirn aktiviert ist. Alle Menschen, die meinen, man müsse die beiden Hälften besser verknüpfen, um besser denken zu können, seien eines Besseren belehrt. Die Hauptverbindungsachse in der Mitte des Gehirns, der Balken, der so groß ist wie ein Daumen und eine Viertelmilliarde Nervenfasern hat, verbinde beide Seiten ziemlich gut. Die Gehirnhälften sind also unterschiedlich, denken aber zusammen.

Drittens: „Die kleinen grauen Zellen machen die ganze Arbeit.“ Ein Großteil der Arbeit werde von Gliazellen übernommen, die die Nervenzellen unterstützen (Verhältnis ungefähr 1:1). Hirnarbeit ist also Teamwork. Ohne Gliazellen ginge nichts. Nervenzellen sind Spezialisten für Nervenimpulse und brauchen eine verlässliche Mannschaft, die sich um Ernährung, Isolierung der Fasern und die Sicherheit kümmert. Also sind es die Zellen insgesamt, die die Arbeit machen.

Viertens: „Mit Brainfood essen wir uns schlau.“ „Brainfood“ heißt das Modewort, mit dem man Nahrungsmittel für das Gehirn verkaufen will, zum Beispiel soll Schokolade glücklich machen und Nüsse und Blaubeeren schlau. Doch leider wimmle es in Sachen Gehirn und Ernährung von Halb- und Unwissen. Klar sei, so Beck, dass das Gehirn mit den richtigen Bausteinen versorgt werden muss. Aber es verfüge über keine Vorräte wie ein Kühlschrank, sondern es lebe quasi von der Hand in den Mund und hole sich die Nährstoffe direkt aus dem Blut – wie ein Vampir. Das bedeute aber, dass es extrem abhängig von einer funktionierenden Logistik ist. Helferzellen, die Astroglia, greifen wichtige Nährstoffe aus der Blutbahn ab, bevor andere Organe überhaupt etwas davon mitkriegen. So werde das Gehirn immer gut versorgt. Nur Omega-3-Fettsäuren in Fisch und in Nüssen scheinen einen gewissen Einfluss auf das Gehirn zu haben.

Fünftens: „Hirnzellen gehen durch Vollrausch und Kopfbälle unwiederbringlich verloren.“ Es gehe nicht darum, möglichst viele Nervenzellen zu behalten, sondern nur die wichtigen – und die seien sehr strapazierfähig. Das Gehirn miste permanent die Zellen aus, die nicht mehr gebraucht werden, und das sei sogar entscheidend, damit das System immer effizienter wird. Das Gehirn verlasse sich auf die Power eines ganzen Netzwerks und nicht auf einzelne wichtige Nervenzellen. Das Internet sei ja auch nicht so einfach abzuschalten – fällt ein Server aus, werden die Informationen eben über den nächsten weitergeleitet. Profi-Kicker müssten also keine Angst vor Kopfbällen haben und der gelegentliche Vollrausch führe nicht zwingend zur Verblödung.

Sechstens: „Männliche und weibliche Gehirne denken verschieden“: Unterschiede in den Gehirnen von Männern und Frauen können laut Beck nicht abgestritten werden. Doch: „Gehirne lernen, passen ihre Struktur den eintreffenden Reizen an und werden so zu dem, was sie sind.“ Ein bestimmtes Verhalten hänge letztlich von den Anforderungen ab. Männer könnten genauso viel quatschen wie Frauen, Frauen könnten genauso gut einparken (räumlich denken), wenn sie es häufig genug machen. Rollenklischees seien also nicht angebracht.

Henning Beck gab zudem noch einen Selbstverteidigungskurs gegen Neuromythen: Man müsse immer darauf achten, wie das Gehirn erklärt wird, wo die Informationen herkommen, wie geforscht wurde und wo die Interessen derer liegen, die diese Legenden verbreiten. Beck will mit den unzähligen Mythen endlich aufräumen, die sich um das menschliche Gehirn ranken. Er selbst studierte Biochemie in Tübingen und promovierte über die Biologie der Nervenzellen am Institut für physiologische Chemie in Ulm.

Sein Talent, andere für sein Thema zu begeistern, stellte er immer wieder unter Beweis. 2012 belegte er mit dem Vortrag „Speed up your mind – wie das Gehirn Geistesblitze beschleunigt“ den ersten Platz beim Science Slam. Dabei geht es darum, ein komplexes wissenschaftliches Thema auf kreative Weise verständlich zu machen. Das Publikum ist gleichzeitig die Jury. Die Wissenschaftler dürfen nur Themen vorstellen, an denen sie selbst geforscht haben.

Neuerdings ist Henning Beck auch Buchautor. Der Titel: „Hirnrissig – Die 20,5 größten Neuromythen – und wie unser Gehirn wirklich tickt“.