Musikstücke und zeitgenössische Texte zum Ersten Weltkrieg beeindrucken bei einem besonderen Abend im Kornhaus
Wie „wenn Gottes Gericht kommen würde“

Kirchheim. Keinen leichten, aber einen immens wichtigen Abend hat Martin Schmelcher in Kooperation mit dem vhs-Kulturring im Kirchheimer Kornhaus veranstaltet. Zum 


Andreas Volz

Gedenken an den Kriegsausbruch vor hundert Jahren gab es eine „musikalisch-literarische Inszenierung“. Als Titel diente ein Tagebuchzitat Arthur Schnitzlers vom 5. August 1914 – geschrieben unter dem Eindruck, den die Nachricht von der „Kriegserklärung Englands an Deutschland“ auf den Wiener Schriftsteller gemacht hatte: „Der Weltkrieg. Der Weltruin.“

Gemeinsam mit sieben anderen Lehrkräften der Musikschulen Wendlingen und Ostfildern spielte Martin Schmelcher passende Werke, um auf den Zusammenhang zwischen Weltkrieg und Weltruin, zwischen Hurrapatriotismus und „Heldentod“ aufmerksam zu machen. Im Mittelpunkt standen die „Zehn Märsche, um den Sieg zu verfehlen“ für Bläser und Schlagzeug, die der argentinisch-deutsche Komponist Mauricio Kagel Ende der 1970er-Jahre komponiert hatte. Deutlicher lässt sich die Katastrophe des Ersten Weltkriegs – und jedes anderen Kriegs – nicht ausdrücken, weder in Worten noch in Noten.

Kagel wollte nicht nur „den Sieg verfehlen“, sondern auch die Marschmusik. Seine Rhythmen klingen wenig kriegerisch – seien sie auch noch so sehr von Trommeln und Pauken begleitet. Zum Marschieren jedenfalls sind die Märsche denkbar ungeeignet. Besonders eindrücklich ist der Marsch Nr. 9, der bezeichnet ist mit „Wie ein Kondukt. Marcia funebre“. Hier kommt der Viervierteltakt am besten in den Pausen zur Geltung. Überhaupt sind überraschende Pausen und eher zufällig wirkende Schlüsse ein besonderes Markenzeichen der zehn Märsche: Sie zeigen, wie schnell und plötzlich das Leben des Soldaten enden kann – erwartet-unerwartet, auf jeden Fall viel zu früh.

„Schräge“ Rhythmen, harte Dissonanzen, langgezogene, klagende Töne, sirenenartige Dauerbeschallung, apokalyptische Bläserklänge – all das lässt beim Zuhören die Greuel des Kriegs aufleben. Oft sind es nur abgehackte Fetzen von Musik, die Assoziationen an ganz andere Dinge wecken: an abgehackte Gliedmaßen und zerfetzte Leiber in den Schützengräben. Dazu passt, dass Kagels Märsche immer wieder das Pfeifen und Zischen von Granaten nachahmen und automatisch – wenn es um den Ersten Weltkrieg geht – Bilder von verwüsteten Landschaften evozieren.

Die Reihenfolge der zehn Märsche war im Kornhaus wild durcheinandergewirbelt. Auch das passt zum Weltkrieg wie zum Weltruin, denn zwischen 1914 und 1918 war so gut wie alles durcheinandergewirbelt worden. Die übrigen Musikstücke waren ebenfalls passend ausgewählt: Arthur Honeggers Choral etwa, in dem drei Stimmen miteinander und doch auch jeweils für sich spielen – Einsamkeit und Verlassenheit symbolisierend. Die Silcher-Vertonung von Wilhelm Hauffs Gedicht „Reiters Morgenlied“ wiederum verband Elemente von Marschmusik mit elegischen Passagen und einem Hauch von Wiegenlied. Außerdem gab es noch Variationen von „Befiehl du deine Wege“: Die Variationen zeigten an, wie oft diese Melodie während des Ersten Weltkriegs erklungen sein muss, wenn Familien den „Heldentod“ der Söhne zu beklagen hatten.

Genau um diesen „Heldentod“ ging es in den begleitenden Texten, die Andrea Hörnke-Triess und Klaus Lerm vortrugen. Am Anfang standen noch Texte der „Haupt- und Staatsaktionen“, etwa ein Teil aus Mauricio Kagels Hörspiel „Der Tribun“, des literarischen Pendants zu seinen „Zehn Märschen, um den Sieg zu verfehlen“. Der Redner übt da seine große Ansprache an „Mein Volk“ und beschwört die Einheit einer „Nation von Könnern“. Dabei entlarvt er sich verhaspelnd selbst, wenn er vom Stichwort „die Verbündeten“ zum ähnlich lautenden „die Verwundeten“ gelangt.

Dass es sich hier um eine sehr realistische Satire handelt, zeigte die Balkonrede Kaiser Wilhelms II., der sich am 31. Juli 1914 ebenfalls an sein Volk wandte: „Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand. [...] Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg von uns erfordern. Den Gegnern aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland zu reizen. Und nun empfehle ich euch Gott, geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!“ – Solche Worte machen heute sprachlos.

Noch stärker wirkten im Kornhaus allerdings die ausgesprochen persönlichen Texte: Briefe und Tagebücher von Käthe Kollwitz sowie Feldpostbriefe des jungen Kirchheimer Soldaten Adolf Bayer an seine Familie. Käthe Kollwitz fragt sich bereits am 27. August 1914: „Wo nehmen all die Frauen, die aufs sorgfältigste über das Leben ihrer Lieben gewacht haben, den Heroismus her, sie vor die Kanonen zu schicken?“

Diese Frage lässt sich hundert Jahre später noch weniger beantworten als 1914 – in dem Jahr, in dem Käthe Kollwitz ihren eigenen Sohn, den 18-jährigen Peter, auf dem Schlachtfeld verliert. Am 17. August notiert sie noch im Tagebuch, dass sie abends an seinem Bett sitzt und dass „er wünscht, dass ich ihm aus Zarathustra über den Krieg vorlese“. Im November 1914 heißt es dann in einer Art Brief, dass der „schöne Schal“ Peter nun nicht mehr wärmen könne: „Er liegt tot unter der Erde. [...] Bei Sonnenaufgang hat das Regiment ihn begraben, seine Freunde haben ihn ins Grab gelegt. Dann sind sie an ihre furchtbare Arbeit gegangen.“

Die „furchtbare Arbeit“ der Soldaten wiederum schildert Adolf Bayer akribisch, wenn er seine Familie in Kirchheim an seinem Alltag teilhaben lässt. So schreibt er am 26. Dezember 1914: „am 24. Heiligen Abend sowie jetzt 26. ist die Hölle auf Erden. Ein Wunder und ein Dank für Gottes Beschützung. Es ist nicht zu beschreiben wie es jetzt dröhnt. Es ist wenn Gottes Gericht kommen würde. [...] Häuser flogen richtig in die Luft. Der Erfolg war sehr gering es gab durch Granaten höchstens 3 Tote und ebenso viele Verwundete. [...] Wir Pioniere 1. Gruppe suchten uns den günstigsten Platz zur Verteidigung. 
2 von uns wurden gleich von den herausstürmenden Franzosen erschossen. Nun waren 2 von unseren Laufgräben voll Franzosen, die ersten 
10 Schritt von uns weg da begannen wir zu schiesen. Der Laufgraben war voll Toter da gingen die hintersten durch nur noch einige blieben mutig aber umsonst, wir streckten sie nieder. Ich schoss von einem gedeckten Platz, hinter vor und neben mir schlugen Granaten ein“.

Am 25. April 1915 schreibt Adolf Bayer zum letzten Mal an die Familie in die Heimat: „Ich hoffe dass ihr alle gesund und munter seid, wie ich auch von mir berichten kann. Momentan geht es ja ruhiger zu, natürlich sind wir hier nie sicher ob wir nicht in die Luft fliegen.“ Genau zwei Tage später ereilte den 19-jährigen Kirchheimer bei Fricourt, nördlich von Amiens, der Tod. Am 28. April 1915 erhält die Familie ein Schreiben von Wilhelm Nieffer, in dem es unter anderem heißt: „Teile Euch die traurige Nachricht mit, dass Euer l[ieber] Sohn gestern den Heldentod gestorben ist. Er bekam einen Querschläger mitten ins Gehirn, so dass man ein Hühnerei hineinlegen konnte [...]. Er wird als der Tüchtigste unserer Komp[anie] betrachtet, denn es war ihm nichts zuviel. Er wird von den Offiz[ieren] wie Mannschaften auf das tiefste bedauert. [...] Nehmen Sie bitte mein herzlichstes Beileid entgegen. Er starb als echter Held.“

Der Familie in Kirchheim mag es beim Lesen dieser Zeilen so ergangen sein, wie dem Publikum im Kornhaus, ganz am Schluss der „Inszenierung“: Die Lichter gingen plötzlich aus – als Anspielung auf das berühmte Zitat des britischen Außenministers Sir Edward Grey, der Anfang August 1914 gesagt haben soll: „Die Lampen gehen in ganz Europa aus, wir werden sie in unserem Leben nie wieder leuchten sehen.“

Info

Am Freitag, 1. August, wird die „literarisch-musikalische Inszenierung“ zum Ersten Weltkrieg im Treffpunkt Stadtmitte in Wendlingen wiederholt. Beginn ist um 20 Uhr.