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„Wir sind eine Friedenspartei“

Wahl Beim Biergartentalk macht Hüseyin Sahin klar: Er ist strikt gegen Militäreinsätze im Ausland und hofft auf mehr soziale Gerechtigkeit im Land. Von Irene Strifler und Frank Hoffmann

Die Linke gilt als politisches Leichtgewicht mit Potenzial zum Unruhestiften, trägt ihre innere Zerrissenheit nach außen und ist für kein ernsthaftes Koalitionsszenario im Gespräch. Im aktuellen Bundestagswahlkampf fiel sie lange gar nicht auf - bis das Thema Afghanistan ihrer ablehnenden Position gegenüber Militäreinsätzen Rückenwind verlieh. Der Kandidat im Wahlkreis, Hüseyin Sahin, organisierte sofort eine Kundgebung. Im Gespräch zeigt er sich diskussionsfreudig und setzt auf politischen Streit bei wichtigen Themen.

Ob‘s zum einen oder anderen Streit mit dem 33-Jährigen kommt, ist fraglich. Zum einen braucht es dazu Gelegenheit - bisher Mangelware in diesem seltsam lauen Wahlkampf. Zum anderen ist der redegewandte Akademiker ein freundlicher Geselle ohne jene Verbissenheit, die manch prominentes Linke-Mitglied ausstrahlt. „Ohne linke Politik hätte es keinen Mindestlohn gegeben“, ist er zufrieden mit den Einflussmöglichkeiten auch aus der Opposition in der Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik. Sein persönliches Ziel: Vor vier Jahren kam die „Die Linke“ im Wahlkreis auf 3,3 Prozent Erst- und 4,8 Prozent Zweitstimmen. Das will er toppen.

Zum Gespräch mit dem Teckboten kommt der Dettinger per Rad. „Wir wollen leben, was wir fordern“, erklärt er. Dass beim Thema Mobilität unter der Teck mit vielen Menschen mehr gedankliche Schnittmengen als anderswo mit der Linken zu erzielen sind, weiß er wohl. Selbst hat er kein Auto und setzt auf die Mobilitätswende mit dem Ausbau des ÖPNV und mehr Anreizen zum Radfahren.

Mit seinen 33 Jahren ist der Mann mit türkischen Eltern ein sehr junger Kandidat im Wahlkreis - und der einzige mit Migrationshintergrund. Dass ihn sein Lebensweg an die Uni führen würde, war für den Arbeitersohn sehr unwahrscheinlich. Wenn einer wie er Chancengleichheit im Bildungswesen für Deutschland predigt, nimmt man ihm das auch ab.

Das Herz des Mitarbeiters der Arbeitsagentur schlägt für Wirtschaftspolitik. Besonderen Wert legt er auf die Verbindung beider Bereiche, der Wirtschaft und der Politik. Viel zu lange habe die Politik den Markt gewähren lassen, meint er. Er vermisst mehr Staat und vor allem „einen Plan“. Das wiederholt er für viele Bereiche, beispielsweise in Bezug auf die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft, aber auch im Kampf gegen die Ausweitung des eh schon bedrohlich großen Niedriglohnsektors. „Unternehmer denken nicht an die sozialen Folgen ihrer Maßnahmen“, rechtfertigt er den Wunsch nach regulierendem Eingreifen.

Ein Anliegen ist ihm, die Fehler nicht nur der letzten vier Jahre, sondern der gesamten Merkel-Ära offenzulegen. Als Beispiel nennt der ehemalige Seniorenheim-Zivi den Pflegesektor. Hier wurden die Probleme in der Corona-Krise überdeutlich. Nicht nur das Gehalt, sondern vor allem die Arbeitsbedingungen müssten dringend verbessert werden. „Geld ist da, es ist nur nicht gerecht verteilt“, steht er voll und ganz hinter dem Wahlprogramm seiner Partei, Spitzenverdiener stärker zu besteuern. Die Rechnung der Corona-Krise werde kommen. Ihm missfällt, dass sich große Konzerne in der Krise bedienen konnten: „Staatshilfen hätten an Bedingungen geknüpft werden müssen“, bedauert er und vermisst einen Lerneffekt.

Während der Linke-Kandidat vielfach mehr Eingreifen des Staates fordert, plädiert er beim konkreten Thema Impfen für Zurückhaltung: „Eine Impfpflicht ist keine gute Idee“, meint der selbst doppelt Geimpfte. Er warnt vor dem mangelnden Vertrauen der Impfzögerer in die Politik. Auslöser für Skepsis seien Verfehlungen Einzelner, etwa in der Maskenaffäre. Auch Parteispenden will die Linke künftig verbieten, um so zu verhindern, dass politische Entscheidungen gekauft werden.

Trotz seiner Jugend ist Sahin gewissermaßen Polit-Profi, zumindest schon zum zweiten Mal Kandidat. Im März trat er bereits im Landtagswahlkampf an. - Dahinter stecke die Hoffnung auf einen Wiedererkennungseffekt, beteuert er, nicht etwa personeller Mangel. Natürlich hofft er dennoch, mehr junge Leute für politisches Engagement begeistern zu können.

Einsatzmöglichkeiten sieht er überall, wird dann aber doch noch politisch sehr konkret: Dass man Bürgerinnen und Bürger nicht einfach übergehen dürfe, zeige der Streit um die Bebauung des Hungerbergs in seinem Heimatort Dettingen. Dazu gibt es bekanntlich am Wahltag einen Bürgerentscheid. Sahin wird gegen das Gewerbegebiet stimmen, denn die hiesigen Linken befürchten eine Verwässerung des für Stuttgart 21 formulierten Ziels, mehr Güter auf die Schiene zu bringen. Zudem empfindet er persönlich die zunehmende Flächenversiegelung als schwierig und zweifelt an der Zahl der entstehenden Arbeitsplätze: All dies sei wieder einmal zu planlos, argumentiert er und fordert, jetzt eher staatstheoretisch als konkret, „mehr Weitblick statt Neoliberalismus“.