Kirchheim. Vor der Urne im großen Saal der Linde bildet sich eine lange Schlange. Jeder Blattstädter will den Bürgermeister wählen. Acht Kandidaten haben sich zur Verfügung gestellt. Vier weibliche und vier männliche, denn es gibt in Blattstadt bereits die Frauenquote. Das heißt, das schwere Amt kann nicht ein Bürgermeister alleine bewältigen. Das funktioniert nur vereint mit einer Bürgermeisterin. So emanzipiert sind die Blattstädter.
Nach dem Wahlgang überlassen sie das Auszählen der Wahlkommission und gehen hoch motiviert wieder an ihre Arbeit. Da gibt es den Supermarkt, die Post, die Malerfirma, die Schreinerei, die Bank, die Arbeitsagentur, eine Forschungseinrichtung, eine Zeitung, einen TV-Sender, eine Wellness-Oase, eine Spielhölle, die Stadtwerke und natürlich das Rathaus.
„Das Besondere daran ist, dass alle Berufe wie ein großes Netzwerk ineinandergreifen“, erklärt Tim Rosalewski, der bereits zum fünften Mal in der Spielstadt mit von der Partie ist, eine der Spielregeln. „Das Ganze ist ein geschlossenes System mit eigenem Geld, den Blüten, und einem eigenen Recht, das der Bürgermeister überwacht.“ Er schlichtet auch Streitigkeiten, denn eine Polizei, wie im wirklichen Leben draußen, gibt es in Blattstadt nicht.
Das Geld kommt in Umlauf, indem zum Beispiel der Supermarkt der Malerfirma den Auftrag erteilt: „Bitte malt uns zwei Plakate mit der Aufschrift ‚Jeder Ladendiebstahl wird mit 50 Blüten bestraft‘.“ Dafür schreibt die Malerwerkstatt dem Discounter eine Rechnung. Die erhält auch die Wellness-Oase, und zwar von den Stadtwerken für die Reparatur der Gefrierschranktür. Und wer sich nach getaner Arbeit unter dem roten Zeltdach der Spielhölle im Garten des Mehrgenerationenhauses vergnügen will, der muss am Eingang 20 Blüten für eine Tageskarte hinblättern. Doch der Andrang hält sich in Grenzen. Ob‘s wohl am Preis oder eher am miserablen Wetter liegt?
In der Regel können die Blattstädter anderthalb Tage in ihrem Beruf arbeiten und dann einen anderen ergreifen. Wer seinen Malerkittel vor der Zeit mit einer signalgelben Postlerweste tauschen will, schaut bei der Tauschbörse des Arbeitsamts nach, ob eine freie Stelle ausgeschrieben wurde.
Der Stundenlohn in Blattstadt beträgt grundsätzlich acht Blüten. Noch vor der Auszahlung zieht die Bank drei Blüten für Steuern ab. Die Bürgermeister und ihre Kommunalbediensteten müssen schließlich auch von etwas leben und für die Infrastruktur sorgen. Auch Jungunternehmern wird unter die Arme gegriffen – die Bank gewährt eine Starthilfe.
Während der Leiter des Kirchheimer Mehrgenerationenhauses, Matthias Altwasser, in der Küche dafür sorgt, dass den 66 Grundschülern das Mittagessen mundet und sich niemand beim Bürgermeister beschwert, regeln Tim Rosalewski und Christian Molter, beide Jugend- und Heimerzieher-Azubis, gemeinsam mit Linde-Mitarbeiterin Daniela Egner die Organisation der Spielstadt. Zusammen mit Praktikanten und Ehrenamtlichen betreuen insgesamt 24 junge Frauen und Männer die Bewohner der Blattstadt von morgens 9 bis abends um 17 Uhr.
„Die Kinder können hier spielerisch die Realität der Erwachsenen kennenlernen“, nennt Daniela Egner, studierte Kunsttherapeutin und Heilerzieherin, den pädagogischen Hintergrund des Kinderferienprogramms. In der Blattstadt, die nach den Blättern des Lindenbaums hinter dem Mehrgenerationenhaus benannt wurde, lernen sie spielerisch, warum es Steuern gibt und wohin das sauer verdiente Geld fließt. Umsonst gibt es hier nichts. Auch das wird den Grundschülern in den fünf Tagen klar. Und nicht nur das. „Dieses System ist nicht starr. Man kann auch etwas verändern“, sagt Matthias Altwasser. In der Blattstadt, die in der Linde bereits zum sechsten Mal über die Bühne geht, gab es auch schon Streiks der Postarbeiter und der Müllwerker um mehr Geld. Die Spielstadt fällt Altwasser zufolge im Mehrgenerationenhaus unter das Thema „Wertebildung“. Sie sollen erkennen, was wertvoll und gerecht ist und was Freiheit bedeutet.
Die Kinderstadt in der Linde ist übrigens bis Samstagnachmittag „Eltern freie Zone“. Doch am letzten Tag des Kinderferienprogramms öffnen sich um 14 Uhr die Stadttore auch für Mütter und Väter und alle Erwachsenen, die noch nie in Blattstadt waren. Dann werden sicher wieder der Blattstädter Bote und der private Blattstädter TV-Sender, wie bei der Bürgermeisterwahl, vor Ort sein, um diesen wichtigen Besuch in Wort und Bild festzuhalten und der Öffentlichkeit zu vermitteln.