Wie Menschen ihren Ruhestand erleben – Heute: Irene Krissler
Work & Travel war schon immer Thema

Bissingen. Jetzt, nach vielen Jahren, griff Irene Krissler wieder zu Strohhalmen, Schere, Klebstoff und Faden und bastelte Strohsterne. Auch Säckchen aus Rupfen nähte die aktive Ruheständlerin aus Bissingen. Weihnachten naht. Nicht nur in der Seegemeinde. Denn Strohsterne, Rupfensäckchen und dazu Eindünstgläser von Bockmeyer aus Nürtingen 


dürfen eine längere Fahrt antreten, hinauf in die Südtiroler Bergwelt. Dort im Ultental wird Irene Krissler die 71-jährige Bäuerin Margarete vom Oberen Hof zu den Weihnachtsmärkten in der Umgebung chauffieren und ihr wieder zur Hand gehen.

Inzwischen wurde das hochgelegene Bergtal im Meraner Land fast so etwas wie eine zweite Heimat für die Bissingerin. „Ich hab‘ vor etlichen Jahren einen Artikel im Stern gelesen über die Südtiroler Bergbauernhilfe und mir gesagt, das interessiert mich.“ Damals leitete sie noch das Kirchheimer Arbeitsamt. In ihrem Herbsturlaub 2010 fuhr sie zum ersten Mal nach Südtirol und zum Oberen Hof im Ultental. Die alten Höfe wurden verkehrstechnisch erst in den 60er-Jahren erschlossen. Der Obere Hof dürfte rund 600 Jahre alt sein. 24 Stück Vieh stehen im Stall, davon elf Milchkühe. Der Anbau von Kräutern und der Verkauf von Kräutertee bildet das zweite Standbein.

„Ich hab‘ gewusst, dass es mir Spaß macht, draußen zu arbeiten und abends zu sehen, was man geschafft hat“, sagt die gebürtige Dettingerin, der die Landwirtschaft nicht fremd ist. Am 3. Juni 2011 war ihr letzter Arbeitstag und wenige Tage später, am 10. Juni, griff sie im Ultental bereits zu Heugabel und Rechen, half in Küche und Stall. Sechs Wochen lang.

Für sie war es konsequent, einen Schnitt zu machen – loszulassen. „Ich bin vorher mit Leib und Seele im Beruf gestanden. Und ich war danach mit Leib und Seele nicht mehr dabei“, sagt die Frau, für die über 30 Jahre lang in der Arbeitsverwaltung der Begriff „Zeitwohlstand“ ein Fremdwort war. Einen Gang zurückschalten war damals nicht drin. Insgesamt 45 rentenversicherungspflichtige Arbeitsjahre liegen hinter ihr. 45 Jahre Weckerklingeln um 6 Uhr.

Das ist jetzt vorbei. Zeit haben. Aufstehen, wenn man aufwacht. Spontan zu sagen, „das mach‘ ich. Das ist das Tolle am Ruhestand“.

Zum Beispiel Reisen. „Das stand schon immer als Thema an“, sagt Irene Krissler, die ihr eigenes „Work-and-Travel-Programm“ gestaltet. Drei Monate arbeitete sie, sozusagen als Volunteer, auf einer kanadischen Bio-Gemüsefarm in New Brunswick, 25 Kilometer von der Ostküste entfernt. „Ich war noch nie so lange von daheim fort. Aber es war eine tolle Erfahrung. Die Menschen in Kanada und Neufundland sind sehr freundlich und hilfsbereit“. Wobei es in Neufundland mehr Elche als Menschen gibt. Das jedenfalls wurde ihr berichtet, als sie Prince Edward Island bereiste.

Auf die kanadische Gemüsefarm kam sie über den Verein wwoof. Er vermittelt weltweit Bauernhöfe, auf denen man, durch eigene Mitarbeit, die ökologische Landwirtschaft kennenlernen kann. Auch 2013 will sie wieder bei dem Verein anklopfen. Ob‘s allerdings Kanada sein wird, dazu will sich Irene Krissler jetzt noch nicht festlegen. Trotz des „Notrufs“ von der Bio-Farm: „Brauch‘ dich nächstes Jahr ab Mai unbedingt. Überleg‘ Dir‘s“, wird sie 2013 spontan entscheiden, wohin die Reise geht. Auf jeden Fall denkt sie, dass sie auch im nächsten Jahr wieder auf einem Bauernhof landen wird.

Mal sehen, kann Irene Krissler ganz gelassen sagen. Denn den Fehler, alles in die Rentenzeit zu verschieben, beging sie nicht. „Ich hab‘ ganz viel vorher gemacht und habe jetzt nicht den Druck, etwas nachholen zu müssen.“ Schon immer war sie gerne mit Rucksack und Fahrrad unterwegs. Daran änderte sich nichts. „Auch heute noch schnapp‘ ich mein Fahrrad und radle drei Tage an den Bodensee oder besuche eine Freundin in Oberschwaben.“ Unterwegs übernachtet sie in Bauernhöfen. „Man kann mit wenig auskommen und trotzdem viel erleben.“ Oder sie fährt bei schönem Herbstwetter in die Berge.

Es ist einfach die Sehnsucht, noch viel Neues kennenzulernen, „solange ich noch fit bin“, die Irene Krissler ihrem Heimatort zwischen Teck und Breitenstein immer wieder den Rücken kehren lässt. Doch auszuwandern, etwa nach Kanada, „ist für mich mit 60 nicht mehr das Thema“. Die Freunde und die gewohnte Umgebung zu verlassen, kommt ihr nicht in den Sinn. Aber ein paar Wochen mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, etwa an die Ostsee, das könnte sie sich gut vorstellen. Oder in der Toskana bei der Olivenernte zu helfen. Und natürlich Freunde besuchen, die weiter weg wohnen, und für die während ihres Berufs wenig Zeit übrig blieb. „Langweilig wird‘s mir jedenfalls nicht, da habe ich keine Angst“, ist sich Irene Krissler sicher.

Und dann wäre da noch dieser Traum vom eigenen VW-Bus, schön ausgebaut, damit man darin wohnen kann.

Doch zunächst warten Bauer Karl, 81, und seine Frau Margarete im Ultental auf die zupackende Schwäbin. „Gell, Du kimmst wied‘r“, sagte Karl zum Abschied und gab ihr als Zeichen der Wertschätzung eine Kaminwurz mit auf den Weg.