Die Leiterin der Kirchheimer Arbeitsagentur, Irene Krissler, geht in den Ruhestand
„Zeitwohlstand“ war für sie ein Fremdwort

Gedanklich ist sie noch nicht beim Abschiednehmen. Dafür hat Irene Krissler, die Leiterin der Kirchheimer Arbeitsagentur-Geschäftsstelle, ihren Kopf noch nicht frei. Knapp zwei Wochen ihres Berufslebens liegen noch vor ihr, bevor für sie ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Zwei Wochen, in denen der Begriff „Zeitwohlstand“ ein Fremdwort ist.

Kirchheim. Aber so war es in den vergangenen drei Jahrzehnten immer. Leerlauf gab es für Irene Krissler nicht. Einen Gang zurückschalten war nicht drin. 1980, als sie ihre Ausbildung beim Arbeitsamt Göppingen begann, suchten die Firmen händeringend Arbeitskräfte. Heute, 2011, im Jahr, in dem die Kirchheimer Arbeitsamtschefin in den wohlverdienten Ruhestand geht, ein ähnliches Bild. Die Wirtschaft brummt wieder und sucht einmal mehr verzweifelt nach Arbeitskräften. Doch die Vorzeichen sind andere. Es fehlt nicht nur zahlenmäßig an Nachwuchs, sondern auch am bildungsfähigen Potenzial, weiß die Leiterin der Arbeitsagentur Kirchheim. Und einfache Hilfsarbeiterjobs, wie damals, gibt es nicht. Heute werden auch an Hilfsarbeiter bestimmte Anforderungen gestellt, sagt Irene Krissler, die seit 1990 die Geschäftsstelle Kirchheim leitet.

Für sie ist Facharbeitermangel nichts Neues. Bereits in den 1980ern wurden busweise qualifizierte Arbeiter von Ostfriesland in den Süden gekarrt, erinnert sich Irene Krissler. Auch mit „Green Cards“ wollte die Regierung den Mangel an IT-Spezialisten durch ausländische Arbeiter beheben. Heute scheint dies nicht zu fruchten. Die Rahmenbedingungen müssten geändert werden.

Irene Krissler, die als Quereinsteigerin zum Arbeitsamt kam und 1982 ihre Ausbildung als Diplom-Verwaltungswirtin abschloss, kennt die Entwicklung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsverwaltung in den vergangenen drei Jahrzehnten genau. 1983 arbeitete sie als Arbeitsvermittlerin in Esslingen und wechselte vier Jahre später nach Kirchheim, in den Bezirk mit der niedrigsten Arbeitslosenquote. „Wir hatten damals unter 1 000 Kunden zu betreuen, heute sind es zwischen 1 500 und 2 000“, vergleicht die Geschäftsstellenleiterin. Kunden? Der Begriff tauchte in den 80ern noch nicht auf, er ist ein Kind der Arbeitsmarktreform 2004. Ebenso wie die Umfirmierung vom Amt zur Agentur. Ob dadurch die Kundschaft ihre Agentur auch wirklich als Dienstleister begreift, steht auf einem anderen Blatt.

Irene Krissler hat immer noch die rappelvollen Arbeitsamtsflure in der Paradiesstraße vor Augen. Die Vermittler konnten sich damals nicht, wie jetzt, nach der Reform, eine halbe oder gar eine Stunde Zeit fürs Kundengespräch nehmen. Und wenn das Telefon läutete, musste sie das Gespräch eben unterbrechen. Auch das ist heute anders. Während einer Sitzung darf kein Telefongeklingel mehr stören.

In ihre Zeit als Leiterin der Kirchheimer Geschäftsstelle fiel auch der massive Firmenabbau vor allem ab 1991 in der Teckstadt und ihrer Umgebung. Große Textilbetriebe wie Kolb & Schüle, Faber & Becker, Otto oder Berger konnten sich nicht länger halten. Unternehmen wie MBB, Müschenborn, Landmaschinen-Rau, Grüninger und Prem, Novibra, Landgold und Conti-Temic sind verschwunden, andere Firmen wie die Papierfabrik Scheufelen mussten in großer Zahl Arbeitsplätze abbauen. In Folge stiegen ab 1992 die Arbeitslosenzahlen rasant an.

Dagegen konnten den Übersiedlern, die nach der Wende 1989 ins Schwäbische kamen, meist Arbeitsplätze angeboten werden. Irene Krissler fuhr damals sonntags kurz entschlossen ins zur Notunterkunft umfunktionierte Schullandheim Lichteneck und nahm die Arbeitslos­meldungen der Neuankömmlinge entgegen. Und im Rahmen des Programms „Aufbau Ost“ verbrachte die Kirchheimer Arbeitsamtschefin ein viertel Jahr lang in Bischofswerda, um dort eine Arbeitsverwaltung aufzubauen. „Kontakte nach Sachsen bestehen noch heute.“

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt war die Betreuung von Aussiedlern aus Rumänien und Polen. Sie wurden damals durch Sprachkurse und vielfältige Weiterbildungsangebote sehr gut auf den Arbeitsmarkt vorbereitet, und konnten, dank der boomenden Wirtschaft, auch vermittelt werden.

2004 standen für Irene Krissler und ihre Mitarbeiter große räumliche wie inhaltliche Veränderungen an. Zum einen wurde durch das „Dritte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ aus dem Arbeitsamt die Arbeitsagentur und zum anderen zog die Kirchheimer Agentur von der Paradiesstraße in das neu errichtete Gebäude in der Steingau­straße um. „Bereits 1990 habe ich damit begonnen, für ein solches Gebäude zu kämpfen“, erinnert sich Irene Krissler. Denn die alte Geschäftsstelle war auf drei Häuser verteilt: zwei in der Paradiesstraße und eines in Göppingen.

Doch kaum im neuen Haus, stand bereits eine weitere Herausforderung vor der Tür: Die geplante Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II (ALG II), besser bekannt unter Hartz IV. Die kurzfristige Umsetzung beziehungsweise Einführung zum 1. Januar 2005 erforderte den vollen Einsatz der Geschäftsstellenleiterin und ihrer Mitarbeiter. Agentur für Arbeit und Jobcenter, Letzteres zuständig für die Hartz IV-Empfänger, arbeiteten zunächst zwar im selben Haus, wurden aber organisatorisch getrennt. Der zweite Arbeitsmarkt, eine Aufgabe des Jobcenters, zu dem auch die ABM-Maßnahmen gehören, fiel nicht mehr unter die Zuständigkeit von Irene Krissler. Vormals lag ihr diese Aufgabe sehr am Herzen. „Es ist wichtig, dass Schwächere auch eine Chance erhalten“, sagt sie und verweist auf die Vermittlungserfolge. Aus gut 40 Prozent der ABM-Stellen wurden Dauerbeschäftigungen. „Noch heute laufen mir ehemalige ABMler in Behörden und sozialen Einrichtungen über den Weg und freuen sich über ihren Arbeitsplatz.“

Diese Erfolge verdankt die engagierte Geschäftsstellenleiterin nicht zuletzt auch ihrer Netzwerkarbeit. „Arbeitgeberkontakte sind sehr, sehr wichtig“, weiß Irene Krissler aus langjähriger positiver Erfahrung. „Ich konnte mit so manchen Themen zu den Arbeitgebern kommen und wurde umgekehrt frühzeitig über Entwicklungen in Firmen informiert.“

Im Bewusstsein, ihre Mitarbeiter sind ihr wertvollstes Kapital, pflegte die „Chefin“ einen kooperativen Führungsstil. Ihr oberstes Ziel: die Mitarbeiterzufriedenheit. „Ich habe richtig gute Leute hier, auf die ich mich immer verlassen konnte“, stellt sie ihrer Mannschaft ein dickes Lob aus. Ein sehr gutes Team und ein ebenso gutes Betriebsklima waren auch die Gründe, weshalb es sie nie aus Kirchheim weg und in höhere Etagen zog. „Hier war mein Platz. Ich wollte nie weiter weg von der Basis.“ Sie hat die Arbeit mit Menschen gesucht. „Das war auch der Grund, weshalb ich zur BA ging.“ Wobei es für die Arbeitsagenturchefin nicht immer nur eitel Sonnenschein gab. Konjunktureinbruch 2008 und Umorganisation bereiteten ihr so manch schlaflose Nacht. Dennoch zieht Irene Krissler insgesamt ein positives Resümee ihrer Arbeit. „Sie hat Spaß gemacht.“

Den nötigen Abstand zu ihrem kopflastigen Arbeitsverwaltungs-Berufsleben wird sie im Juni auf einem Südtiroler Biokräuterhof gewinnen. „Draußen in schönster Natur etwas mit den Händen schaffen“, das macht den Kopf frei für Neues. Denn Ideen hat sie viele. „Das Wichtigste ist, loslassen zu können.“ Nach solch einem engagierten Berufsleben sicher nicht ganz einfach.