Rainer Laskowskis Rückschlüsse anhand von „900 Jahren Dachdeckungsgeschichte der Martinskirche“
Ziegelreste geben Geheimnisse preis

Die Dachsanierung der Kirchheimer Martinskirche ist abgeschlossen. Sie sorgt aber nicht nur für ein dichtes Kirchendach in den nächsten Jahren, sondern hat auch historisch Bedeutsames zutage gefördert. Fragmente romanischer Dachziegel sind in überraschend großer Zahl aufgetaucht und erlauben ganz neue Rückschlüsse zur Baugeschichte der Kirche.

Kirchheim. Rainer Laskowski – Museumsleiter im Ruhestand, aber nach wie vor ehrenamtlicher Beauftragter des Landesdenkmalamts für den Stadtbezirk Kirchheim – spricht von einem „Eindruck über 900 Jahre Dachdeckungsgeschichte“, den die jüngsten Ziegelfunde erlauben. Es handle sich dabei um „einen weiteren Mosaikstein für die Baugeschichte der Martinskirche“. Die Archäologie-AG, die Rainer Las­kowski weiterhin leitet, hat die Ziegelfragmente im April ausgegraben. Der Ausgrabungsort entspricht aber nicht der gängigen Vorstellung vom Buddeln im Boden. Vielmehr haben die Hobby-Archäologen unter dem Sakristeidach gegraben – genauer gesagt in vier von insgesamt zwölf Gewölbezwickeln der Sakristei.

Der Zugang ist nicht ganz einfach zu erreichen: Es gibt nur eine schmale Holztür, die von außen in den Dachraum der Sakristei führt. Dass die Martinskirche wegen der Dachsanierung eingerüstet war, kam der Archäologie-AG also sehr gelegen. War der eigentlich unzugängliche Raum einmal erreicht, gruben die AG-Mitglieder von oben herab in den Zwickeln. Dass sich dort Bruchstücke alter Ziegel finden ließen, ist weit weniger überraschend, als man zunächst denken sollte. Rainer Las­kowski: „Die Ziegel verfüllen da einen Hohlraum. Statisch ist das sogar gut, wenn das Gewölbe von oben Druck kriegt. Dann ist es stabiler.“

Was aber selbst Rainer Laskowski überrascht, ist die Tatsache, dass sich die meisten Bruchstücke, die aufgetaucht sind, den ältesten Ziegelarten zuordnen lassen: den romanischen. Dabei handelt es sich um Dachziegel vom Typ „Hirsau“, die mit ihren Spitzschnitten ein charakteristisches rautenförmiges Muster bilden. Damit sich die Besucher der Martinskirche diese Dachdeckung besser vorstellen können, hat Wolfgang Eckel, der bereits das „Dachpaten“-Modell der Kirche gefertigt hatte, eine Nachbildung der Rautendeckung geschaffen.

Das auffälligste Merkmal der Dachziegel sind die „Nasen“, also die Auskerbungen, an denen sie sich auf dem Dach einhängen lassen. Rund 120 Nasen, die in den vier untersuchten Gewölbezwickeln gefunden wurden, gehören zu den romanischen Ziegeln. Rainer Laskowski zufolge sind gerade bei diesen ältesten Ziegeln die großen, quaderförmigen Nasen aus dem Tonmaterial der Ziegel „geschöpft“ worden. Bei späteren Ziegeln dagegen werden die Nasen immer kleiner. Außerdem seien sie schon bei den gotischen Ziegeln nur noch aufgesetzt, weswegen sie eigentlich viel leichter abbrechen würden.

Überhaupt könnten die 25 gotischen Ziegel, deren Reste die Archäologie-AG ausgegraben hat, von der Qualität her nicht an die früheren romanischen Ziegel heranreichen. Trotzdem sieht Rainer Laskowski auch in den gotischen Ziegeln, die schon eher an die Biberschwanz-Form erinnern, eine Besonderheit. An der Stelle, an der sie nicht überlappt wurden, sind sie grün glasiert: „Das ist vielleicht nicht nur unter dem farblichen Aspekt zu sehen. Die Qualität des Tons ist deutlich schlechter als bei den romanischen Ziegeln, und so diente die Glasur möglicherweise auch dazu, die Lebensdauer der gotischen Ziegel zu verlängern.“  Was auch immer der Grund für die Glasur war, für Rainer Laskowski ist das ein bedeutender und aufregender Fund: „Wir haben es hier mit den Anfängen der glasierten Tonware in Kirchheim zu tun.“ Noch frühere Zeugnisse seien bisher nicht nachgewiesen worden.

Spätere Ziegel stammen aus der Barockzeit. Sie unterscheiden sich von den gotischen Ziegeln unter anderem dadurch, dass sie mit Rinnen versehen sind, an denen das Wasser besser ablaufen sollte. Im 19. Jahrhundert schließlich gab es an der Kirchheimer Martinskirche wiederum ganz andere Ziegel – zugleich mit der Umstellung auf eine Einfachdeckung mit Holzschindeln im Zwischenraum. Aber auch diese Ziegel, die rund zweihundert Jahre alt sein dürften, haben ihre Besonderheit: „Das sind die letzten handgearbeiteten Ziegel – mit noch einfacheren, noch kleineren Nasen.“ Kurz danach seien die ersten Dachziegel aus industrieller Fertigung entstanden.

Was lässt sich nun aus den Ziegelfunden – vor allem aus den romanischen – für die Baugeschichte der Martinskirche ableiten? Zum einen die Bauzeit der romanischen Kirche, für die Rainer Laskowski auf das erste Drittel des zwölften Jahrhunderts verweist, in die Zeit um 1130 oder 1140. Zum anderen schließt er darauf, dass die romanische Martinskirche zwei Chortürme gehabt haben könnte statt des heutigen einen Westturms. Das folgert er aus der Tatsache, dass auch „Hirsauer Ziegel“ kleineren Formats gefunden wurden. Der Leonberger Bauhistoriker Dr. Ulrich Knapp, der sich schon lange mit der Geschichte der Kirchheimer Martinskirche beschäftigt, habe ihn darauf aufmerksam gemacht, dass das kleinere Format durchaus für eine Turmdeckung sprechen könne. Der heutige Turm dagegen ist Rainer Laskowski zufolge frühgotisch. Er gehöre nicht zur ursprünglichen romanischen Kirche, auch wenn er wohl noch in der Achse dieser älteren Kirche stehe.

Ein weiterer Befund von romanischen Ziegelfragmenten lässt noch ganz andere Rückschlüsse auf das Aussehen der alten romanischen Basilika zu. Es gebe nämlich „asymmetrische Ziegel, die oben schmäler sind als unten“. Ulrich Knapp habe gesagt, dass diese Ziegelform auf romanische Apsiden hindeuten könnte. Rainer Laskowski zeigt also auf, was der Fund von Tonscherben unter dem Sakristeidach im Extremfall bedeuten kann: „Über diese Ziegel lassen sich möglicherweise romanische Bauten erschließen, die es längst nicht mehr gibt – beispielsweise eine Apsis.“

Durch die Beschäftigung mit den Dachziegeln im Sakristeigewölbe hat sich Rainer Laskowski übrigens auch mit der Sakristei selbst stärker beschäftigt als bisher. Um 1450, beziehungsweise schon kurz davor, seien sowohl der Chor der Martinskirche als auch die Sakristei entstanden. Auch das erzählt Rainer Laskowski anhand von Aussagen Ulrich Knapps. An der Außenwand lassen sich nämlich etliche Rüstlöcher finden, in denen sich noch Rüsthölzer befinden. Über diese Löcher, in denen die Hölzer steckten, war das Gerüst mit dem Mauerwerk verbunden. Beim Abbruch des Gerüsts blieben die Holzreste im Mauerwerk erhalten. Dendrochronologische Untersuchungen lassen nun auf zwei mögliche Jahre schließen, in denen die Rüsthölzer gefällt worden sein könnten: 1428 oder 1442. So können es die Besucher der Martinskirche derzeit nachlesen – in der Nordwestecke der Kirche, wo in drei  Vitrinen Ziegelfragmente ausgestellt sind.

Der Innenraum der Sakristei ist für Rainer Laskowski „ein besonderer Schatz in Kirchheim“, haben sich doch sogar gotische Wandmalereien erhalten. Die drei Schlusssteine des Sakristeigewölbes verdienten ebenfalls Aufmerksamkeit: Die ersten beiden zeigten die Wappen Kirchheims und Württembergs, also der Stadt sowie der weltlichen Herrschaft Mitte des 15. Jahrhunderts. Der dritte Schlussstein zeige „in Silber ein durchgehend rotes Kreuz“. Auch hier verdankt Rainer Laskowski den entscheidenden Hinweis dem Bauhistoriker Ulrich Knapp: „Der hat das gesehen und sofort als Wappen des Bistums Konstanz erkannt.“  Tatsächlich gehörte Kirchheim damals – etliche Jahrzehnte vor der Reformation – zum Bistum Konstanz, und zwar zu einem „Archidiakonat“ mit Namen „Rauhe Alb“ oder „An der Rauhen Alb“. Das Konstanzer Wappen steht also für die geistliche Herrschaft während der Bauzeit.

Die Sakristei steht zwar am Tag des offenen Denkmals nicht unbedingt der Allgemeinheit zur Verfügung. Aber trotzdem gibt es am Sonntag von 12 bis 17 Uhr ein umfangreiches Programm mit Informationen über die Kirchensanierung, über die Fledermäuse, die den Sommer über im Dachstuhl hausen, sowie über das spätgotische Marienbild im Chor, auf dem eine Anbetungsszene mit einem der drei Weisen aus dem Morgenland zu sehen ist. Rainer Laskowski verweist darauf, dass sich zwischendurch auch ein Blick auf die – teils zu einem großen Ganzen zusammengesetzten – Ziegelfragmente lohnt.