Fliegende Gärten, grüne Hochhäuser, die die Wolken überragen, Autos, die – gerufen vom Smartphone – alleine ihren Weg durch die Stadt finden. Denkt man an die Stadt der Zukunft, sind die Bilder im Kopf bunt. Die Möglichkeiten scheinen grenzenlos. Vor allem, weil es das alles schon gibt, weil es technisch schon möglich ist – irgendwo auf der Welt. Kalifornien hat erst kürzlich komplett selbstfahrende Autos auf den eigenen Straßen zugelassen, die nicht mal mehr mit einem Lenkrad für den Notfall ausgestattet sind. Der „Bosco Verticale“ (senkrechter Wald), ein 2014 fertiggestelltes Hochhausprojekt in Mailand, bietet nicht nur 130 Wohnungen auf 23 Etagen Platz, sondern auch zahlreichen Vogel- und Insektenarten sowie etwa 900 Bäumen. Natur mal anders. Machen solche Entwicklungen vor den Toren einer deutschen Kleinstadt halt, oder muss sich auch eine Stadt wie Kirchheim auf gravierende Veränderungen einstellen? Städteplaner, Bürgermeister, Umweltschützer und Forscher grübeln darüber schon lange. Die Wohnungsnot und die schlechte Luft werden nicht von alleine besser. So kann es also eigentlich nicht weitergehen – aber wie dann?
Rund 1 300 Wohneinheiten sind im Moment in Kirchheim in Planung. Wirft man einen Blick in die Statistik, wird schnell klar, dass der Wohnungsbedarf so schnell auch nicht abbricht: Es gibt seit Jahren mehr Zuzüge nach als Fortzüge aus Kirchheim. Viele Gemeinden im Umkreis stoßen – ganz wortwörtlich – inzwischen an ihre Grenzen. Muss man jetzt etwa anfangen, Hochhäuser zu bauen? Irgendwie fällt es schwer, sich das Kirchheimer Stadtbild anders vorzustellen, als es jetzt ist.
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Wer wissen will, wie sehr sich eine Stadt in den nächsten 50 Jahren verändern wird, dem hilft es, sich anzusehen, was in den vergangenen 50 Jahren passiert ist: die Weltpopulation ist um fast vier Milliarden Menschen gewachsen, das Auto hat die europäischen Städte erobert, die Stadt, wie man sie früher kannte, ist verloren gegangen. Entstanden ist ein „Siedlungsbrei“, wie es die Stadtplaner ausdrücken: Gemeinden, die immer weiter zusammenwachsen, die immer mehr Platz fressen, weil viel Raum im Zentrum durch das Auto beansprucht wird – kurz gefasst: die irgendwie ihre Form verloren haben.
Diese Entwicklung wird so weitergehen, wenn man sie nicht stoppt, prognostiziert Henning Krug, Professor für Stadtplanung an der HfWU in Nürtingen. Konkret heißt das: Bei jedem Gebäude, dessen Zeit abgelaufen ist, muss man sich überlegen, ob man bestehende Strukturen erneuert – oder ob man neue schafft.
"Seit es Pedelecs gibt, gibt es keine Ausrede mehr, sich ins Auto, anstatt aufs Rad zu setzen."
Henning Krug
Der Professor für Stadtplanung an der HfWU Nürtingen findet, dass dank dem Elektrorad jeder – unabhängig von Alter oder Wohnort – umweltschonend unterwegs sein kann.
Auch Gernot Pohl, Leiter des Kirchheimer Stadtplanungsamts, ist kein Fan der zerfressenen Stadt. „In den 60er- und 70er-Jahren hatte man definitiv zu viel Geld zur falschen Zeit“, resümiert er. Für seinen Geschmack wurde damals zu autogerecht gebaut, die Städte dehnten sich immer weiter an den Rand aus.
Städte auf mehreren Ebenen, das exakte Gegenteil der Ausdehnungen an den Rand, sind eine klassische Städtebau-Utopie. In manchen Fällen – wie bei der Montréaler Untergrundstadt – werden sie Wirklichkeit. Sie sind aber auch vor allem eines: sehr aufwendig und gar nicht so platzsparend, wie man meinen könnte, sagt zumindest Henning Krug. „Wer Hochhäuser baut, muss relativ viel Platz zwischen den Gebäuden frei lassen, außerdem kann man die unteren Stockwerke quasi nicht nutzen“, erklärt er. Für Kirchheim sei das nicht die richtige Lösung. Der Vorteil, den das hohe Bauen bringen könnte, ist schnell verflogen. Eher realistisch: vier- bis siebengeschossige Bauten. Doch auch die sind in Kirchheim Mangelware.
Die Stadt liegt heute mitten in einer Boom-Region: Die Wirtschaft prosperiert, den Menschen geht es gut, die Bevölkerung wächst. Das lässt die Stadt nicht unberührt. Obwohl Kirchheim in vielerlei Hinsicht von der Entwicklung Stuttgarts abhängig ist, liegt sie weit genug von der Landeshauptstadt entfernt, um als „eigene Stadt“ leben zu können. Das Kirchheimer Stadtleben wird nicht von Stuttgart ausgesaugt – wie es beispielsweise einigen Orten an der Peripherie von München ergeht.
Auf der anderen Seite zieht es immer mehr Bewohner des ländlichen Raums in die Mittelstadt: „In Lenningen, vor allem in den kleinen Teilorten, schwinden die Einwohner, denn dort gibt es kaum noch Läden oder Ärzte“, sagt Gernot Pohl. Von dem Rückzug kann Kirchheim profitieren: Der langsame Tod der Dörfer, überall in Deutschland, gibt Städten Bedeutung. Und Orte in der Größe von Kirchheim haben noch einen großen Pluspunkt. Man kann ihren Landschaftsbezug erhalten. Die Wege von der Stadt in die Natur sind kurz. Der positive Nebeneffekt: Die Kirchheimer identifizieren sich mit ihrer Region und haben gleichzeitig ein Erholungsgebiet direkt zu ihren Füßen – sofern sich die Stadt nicht weiter über ihre Grenzen hinaus ausdehnt.
Wenn Gernot Pohl, der Kirchheimer Stadtplaner, an seine Stadt denkt, ist er vor allem zufrieden. Die Stadt muss ein Wohnzimmer für ihre Bürger sein. Sie sollen sich mit ihr identifizieren können, sagt er. In einem guten Stadtzentrum muss sich jeder Bewohner wiederfinden. Auf der anderen Seite des Atlantiks, in den USA, ist das seltener der Fall als in Europa. „Dort leben häufig die gleichen Menschen in einem Wohnviertel.“ Ein Nährboden für Populismus. „Je weniger ich mich mit anderen Menschen austausche, desto eher kommen Menschen wie Trump hoch“, sagt Gernot Pohl.
Pohls Idealbild einer Stadt ist die „Stadt der kurzen Wege“. „Kultur, Arbeit, Familie und Wohnort – alles sollte möglichst nah aneinander liegen“, findet er. In Kirchheims Innenstadt scheint das soweit ganz gut zu klappen. Fragt man ihn, was er anstellen würde, wenn er die Stadt ganz nach seinem Geschmack umbauen könnte, fällt ihm nicht viel ein: Ein paar Bausünden aus den 70er-Jahren würde er wegzaubern, zum Beispiel die umständliche Straßenführung beim Burger King. Und er würde umdrehen, was man irgendwann in der Nachkriegszeit begonnen hat: Städte für Autos, statt für Menschen zu bauen.
Dass das Auto Städte derart in Beschlag genommen hat, ist nicht nur Gernot Pohl, sondern auch Henning Krug ein Dorn im Auge. Für jedes Auto in Deutschland – inklusive Parkplätze, Straßen und mehr – muss man etwa 100 Quadratmeter Fläche einrechnen, kalkuliert Gernot Pohl. Eine stadtplanerische Katastrophe. Und eine Entwicklung, die der „Stadt der kurzen Wege“ fatal entgegensteht. Doch der Weg zurück zur Fußgängerstadt ist schwierig: Hätte man damals, in der Nachkriegszeit, nicht so viel Fläche für Straßen und Parkplätze verbraucht, würde man heute für viele Distanzen gar kein Auto brauchen, weil die Stadt viel kompakter wäre. Das Auto verstärkt sich selbst – ein Teufelskreis. Henning Krug, der Hochschulprofessor, plädiert leidenschaftlich für die Bewegung weg vom Auto: „Die Notwendigkeit halte ich schon lang für gegeben.“ Auch aus ökologischen Gründen.
Nahverkehr muss alle Ecken bedienen
Eine Alternative könnte das Fahrrad sein. Ist es das Verkehrsmittel der Zukunft? Ein prominentes Beispiel für Fahrradfreundlichkeit ist die dänische Hauptstadt Kopenhagen. Durch konsequente Fahrradpolitik hat es die Stadt in wenigen Jahren geschafft, den Fahrradverkehr in der Stadt zu verdoppeln. 2005 waren dort erstmals mehr Fahrräder als Autos in der Stoßzeit unterwegs. Doch für solche Beispiele muss man nicht einmal ins Ausland gucken. In Greifswald an der Ostsee sind 50 Prozent des Verkehrs Radverkehr, sagt Henning Krug. Mit etwa 54 000 Einwohnern ist die Stadt größentechnisch durchaus mit Kirchheim vergleichbar. „Damit es so etwas auch hier gibt, muss die Stadt in Vorleistung gehen“, sagt Henning Krug.
Eine radfreundliche Stadt wünscht sich auch Gernot Pohl. Die Fortbewegung mit dem Auto vergleicht Kirchheims Stadtplaner mit einem Baby im Mutterleib: „Man erlebt die Umwelt durch eine sichere Scheibe, als ob die Außenwelt feindlich ist.“ Anders sei das Gefühl beim Fahrradfahren. „Man ist Teil des städtischen Lebens und kommt mit seinen Mitmenschen in Kontakt“, sagt er.
Dass der ÖPNV für viele Menschen in der Region keine Alternative zum Auto ist, liegt an den Preisen, der Taktung, und den Umwegen, die man für viele Verbindungen per Bus oder Bahn in Kauf nehmen muss. Das Verkehrsnetz geht im Moment sternförmig von Stuttgart aus und lässt viele Querverbindungen aus. Henning Krug hält das für altmodisch – und zu einfach gedacht. Besser wäre es, wenn das Netz den Bedürfnissen der Menschen angepasst wäre, die eben auch mal quer über Land müssen. Der Nahverkehr müsste alle Ecken bedienen. Wie viele Kirchheimer haben schon ihren Arbeitsplatz in Stuttgart-City?
Eine Alternative zum eigenen Auto könnten auch Sharing-Modelle sein. Doch das Konzept geht nur unter Bedingungen auf: „Je kompakter die Stadt ist, desto sinnvoller sind solche Modelle“, sagt Henning Krug. Wenn nicht jeder ein eigenes Auto vor der Tür stehen hat, kommt man auch nicht so schnell in Versuchung, es zu nutzen. Erst wenn viele mitmachen, entfaltet das Modell seinen Reiz.
Noch sind die meisten Kirchheimer weit von dem Gedanken entfernt, ohne Auto zu leben. Bei einer Online-Umfrage auf der Teckboten-Homepage gaben 71 Prozent der User an, dass sie mit dem Auto zu Arbeit fahren. Ein „Fünkchen Hoffnung“ macht Henning Krug, der selbst kein Auto besitzt, die Jugend: „Immer mehr junge Menschen haben kein Auto oder machen sogar gar keinen Führerschein mehr.“