Igor Perovic ist der sechste Headcoach auf der Kirchheimer Bank in den vergangenen vier Jahren. Das ist eine Menge in einem Zweitliga-Klub, der seit mehr als einem Jahrzehnt für Kontinuität, Verlässlichkeit und Augenmaß im Handeln steht. Man könnte sagen, die Zeiten werden auch in Kirchheim turbulenter, klänge das mit Blick auf die größte Krise, die der Sport in Friedenszeiten erlebt, nicht wie ein schlechter Witz. Perovic kennt sich mit Krisen aus. Er hat gelernt, dass er immer dann am erfolgreichsten ist, wenn er auf sein Inneres hört. Als langjähriger Erstligatrainer in Tübingen, aber auch als Privatmensch. Der Erfolg gibt ihm recht. Im Sport hat er schon alle Großen geschlagen: Bamberg, Berlin, die Bayern aus München. Im wahren Leben war er einem Gegner ausgesetzt, der schwer zu greifen ist. Sein Burn-out vor vier Jahren war für ihn, wie er heute sagt, eine wichtige Erfahrung.
Beim Gegner, auf den er jetzt trifft, zählt Erfahrung wenig, weil ihn schlicht keiner kennt: ein Virus, das dem Sport seit Monaten vor Augen führt, dass es nichts gibt, was wirklich wichtig ist, und dass kaum etwas nebensächlicher ist als langfristige Pläne. Von Spiel zu Spiel denken - selten steckte in einer der banalsten Trainer-Floskeln mehr Substanz.
Von Spiel zu Spiel denken, das heißt diesmal nicht nur den Gegner zu analysieren, das bedeutet Grundlagenarbeit. Nach einer Vorbereitung mit ständig wechselnden Formationen, mit zahlreichen Verletzungen und einer zehntägigen Quarantäne zuletzt bleibt heute Abend nur der Kaltstart gegen den ehemaligen Erstligisten aus Jena. Ohne Automatismen, auf die sich vertrauen ließe, und mit einem Spielmacher, der erst seit einer Woche in der Stadt ist.
Die Rückkehr von Richie Williams war die größte Nachricht in einer nicht gerade nachrichtenarmen Zeit. Der 33-jährige Pointguard, der in der Saison 2015/16 schon einmal das Kirchheimer Spiel lenkte, ist ein Mann mit Erstliga-Erfahrung, der über Jahre hinweg zum Besten zählte, was der Basketball hierzulande auf dieser Position zu bieten hat. Williams ist nicht mehr der Jüngste, sein Spiel hat sich verändert. Seine offensive Klasse, sein explosiver Zug zum Korb ist einer selbstloseren Spielweise gewichen. An seinem letzten Arbeitsplatz in Helsinki erlebte man den Amerikaner vor allem als umsichtigen Spielgestalter und klugen Passgeber. Ganz im Sinne von Perovic, der solche Qualitäten schätzt. Für diese Interpretation der wichtigsten Rolle auf dem Parkett hat der serbische Coach einen Namen: europäisch.
Ein Grund, weshalb der junge Karlo Miksic seinem Mentor von Elchingen nach Kirchheim gefolgt ist. Miksic ist nicht nur ein Arbeiter, der sich in den Dienst der Mannschaft stellt, er ist gleichzeitig ein bissiger Verteidiger. In Elchingen war er Perovics verlängerter Arm auf dem Spielfeld. Taktisch ausgesprochen klug für sein Alter, diszipliniert, allenfalls in der Defensive zuweilen nicht clever genug. Seine notorische Anfälligkeit für Fouls war in der Vorsaison kaum zu übersehen. Sein Trainer sagt: „Karlo ist physisch stark, geht oft aufs Ganze. Wie man das richtig dosiert, muss er noch lernen.“
Aufs Ganze gehen, nie aufgeben, seine Nebenleute mitreißen. Solche Charaktere lassen sich nicht formen. „Das hat man oder man hat es nicht“, sagt Perovic. Nico Brauner hat es. Er, der als Spielmacher eigentlich gesetzt war und nach einem Jahr als Zweitbesetzung in die Hauptrolle hineinwachsen sollte, wird nach seinem Mittelfußbruch irgendwann zurückkehren. Vielleicht schon Anfang Dezember.
Dann ist da auch noch Kyle Leufroy, der als Shooting Guard in Hagen zwar spektakuläre Statistiken auflegte, aber wenig Spielverantwortung übertragen bekam. In Kirchheim sollte sich das ändern. „Kyle ist ein Mann für die erste Liga. Dafür muss er allerdings beweisen, dass er auch als Point Guard bestehen kann“, sah Perovic seinen Scharfschützen noch vor wenigen Wochen als Option auf der Eins. In zwei erfolgreichen Testspielen hat Leufroy das dick unterstrichen. Gegen Basel und Tübingen lenkte er erfolgreich das Spiel und erzielte dabei jeweils mehr als zwanzig Punkte.
Die spannende Frage wird sein: Was passiert, wenn alle fit sind? Wie gehen die Knights mit dem dann zu erwartenden Überangebot im Backcourt um? Für Sportchef Chris Schmidt stellt sich diese Frage nicht. Zumindest nicht jetzt. „Uns stehen alle Optionen offen“, betont er. „In einer Saison, in der keiner weiß, was passiert, werden wir je nach Lage neu entscheiden.“
Auf die noch im Sommer von Skeptikern verortete Schwäche im Spielaufbau fällt trotz anhaltender Verletzungssorgen plötzlich ein anderes Licht. Eine Grundregel ist geblieben: „Wir folgen in diesem Jahr einem anderen Ansatz“, sagt Schmidt. Jeder trägt mehr Verantwortung, jeder muss sich neu erfinden. Es gibt keine starren Rollen. Flexibilität soll keine leere Worthülse sein, sondern Überlebensstrategie im ursprünglich von elf auf zehn Spieler reduzierten Kader.
Ein Trend, den der Basketball längst vorgibt. Die Zeiten, da unbewegliche Riesen unter Körben parkten und treffsichere Alleinunterhalter die Show an sich rissen, sind vorbei. Heute soll jeder möglichst alles beherrschen, zumindest zwei oder gar drei Positionen im Repertoire haben. Vor allem: ein echter Teamplayer sein. Selbst vermeintliche Center alter Schule wie Andreas Kronhardt oder 2,17-Meter-Mann Andreas Nicklaus brechen mit alten Mustern. Nicklaus galt für seine Größe schon immer als äußerst beweglich, hat im Sommer hart an sich gearbeitet und kämpft in diesem Jahr um einen Stammplatz. Kronhardt hat sich trotz beruflich eingeschränkter Trainingsmöglichkeiten schon im letzten Jahr als wahres Konditionswunder entpuppt und war zuletzt immer öfter auch jenseits der Dreierlinie zu finden.
Wenn von mehr Flexibilität die Rede ist, dann sind jedoch Typen wie Kevin Wohlrath, Till Pape oder die beiden Neuzugänge Tidjan Keita und Max Mahoney gemeint. Der 2,05 Meter große und nur 90 Kilo schwere Keita verfügt über eine Sprungkraft und Schnelligkeit, die sich bei seiner Größe nur selten findet. Sein größtes Handicap: Der 23-jährige Schlaks muss erst noch beweisen, dass er der Liga physisch gewachsen ist. Ein „Bonusspieler“, dem Perovic ein Riesen-Potenzial bescheinigt. Bonus heißt: „Wenn er es ausschöpft, ist er ein Riesengewinn“, meint der Coach. „Falls nicht, ist das Risiko überschaubar.“
Mahoney ohne Startprobleme
Für Max Mahoney gilt das nicht. Er muss liefern, und das tut er bisher auch. Der 22-jährige Amerikaner stieg vor drei Wochen aus dem Flieger und holte eine Mentalität aus dem Koffer, für die man im Deutschen den Begriff des Kampfschweins erfunden hat. Für einen Rookie vom College ist so ein Start eher ungewöhnlich. Sein künftiger Teamkollege Kyle Leufroy, der ihn aus der Heimat kennt, charakterisiert seinen neuen Mitstreiter auf seine Art: Gut, wenn du ihn neben dir hast. Schlecht, wenn er dein Gegenspieler ist. Mahoney könnte in diesem Jahr zu einem echten Glücksgriff werden. Als starker Rebounder mit Durchschlagskraft unterm Korb, gleichzeitig schnell genug, um auch die Vier zu verteidigen. „Wir brauchen eine Antwort auf jede Situation“, sagt Perovic. „Ich glaube, die haben wir.“