Wie geht das einstige Wächterheim mit den Missbrauchsvorwürfen um, die nach mehr als vier Jahrzehnten ans Tageslicht gekommen sind? Jürgen Knodel ist heute der Vorstandsvorsitzende der Kirchheimer Stiftung Tragwerk, zu der sich Wächterheim und Paulinenpflege 2008 zusammengeschlossen haben. Nachdem er erstmals mit diesem düsteren Kapitel in der Geschichte seiner Einrichtung konfrontiert worden war, hat er sich intensiv um die Aufarbeitung bemüht. Die Vorwürfe der damaligen Kinder entsprächen der Wahrheit, sagt er.
„Der Fall war der Heimleitung bekannt geworden. Die hat es weitergeleitet an die Heimaufsicht und an die Jugendämter. Auch die Polizei war eingeschaltet und hat mit Jugendlichen gesprochen.“ Nach dem Suizid des Tatverdächtigen am Tag des anberaumten Gesprächs sei aber nichts mehr weiterverfolgt worden: „Es hat keine Aufarbeitung mit den Jugendlichen gegeben. Man hat damals gesagt, das muss erst einmal zur Ruhe kommen.“
Jürgen Knodel stellt fest: „So ein Thema wurde damals anders diskutiert als heute.“ Aus heutiger Sicht sei der damalige Umgang mit den Missbrauchsfällen falsch gewesen. Deshalb sei es richtig, auch Jahrzehnte später das Gespräch zu suchen. Inzwischen hätten solche Gespräche stattgefunden, an denen auch die frühere Heimleitung beteiligt war: „Da gab es Entschuldigungen – und auch ich kann mich aus heutiger Sicht nur entschuldigen für das, was da lange vor meiner Zeit vorgefallen ist.“
Am Ende der Gespräche seien aber immer noch die zwei Fragen geblieben: „Wieso hat damals niemand was bemerkt? Wieso hat damals niemand etwas dagegen unternommen?“ Die Fragen bleiben immer noch offen. Auch Jürgen Knodel kann sie nicht beantworten.
Kirchheims Dekan Christian Tsalos, von Amts wegen Mitglied im Stiftungsrat, sieht die Gespräche trotz dieser offenen Fragen als wichtig an: „Es hat schon sehr viel bewirkt, dass die Betroffenen erstmals jemanden hatten, der ihnen hier überhaupt zugehört hat. Da durfte endlich etwas raus, was zu lange unausgesprochen geblieben ist.“
Jürgen Knodel will jederzeit weitere Gespräche anbieten, auch mit anderen Betroffenen. Es geht ums Zuhören, um den Austausch, um das Gespräch über Beratungsangebote und über Möglichkeiten der therapeutischen Begleitung. Die Stiftung Tragwerk hat auch eine unabhängige Historikerin damit beauftragt, die Geschichte des Wächterheims und der Paulinenpflege zu erforschen – ungeschönt.
Die Vergangenheit und deren Aufarbeitung ist das eine, das andere sind Gegenwart und Zukunft: Die Leiden der Kinder von damals sollen immerhin dazu führen, dass sich vergleichbare Fälle nicht wiederholen. Jürgen Knodel spricht von einer „anderen Zeit“ und einer „anderen Sensibilität im Umgang mit solchen Themen“. Kinder und Jugendliche würden auf ihre Rechte hingewiesen, darauf, dass sie sich melden können, wenn ihnen Gewalt angetan wird. Sie bekommen Ansprechpartner genannt.
Natürlich ist sich auch Jürgen Knodel eines großen Problems bewusst: „Es ist das Problem des geschlossenen Systems.“ Gerade darum gebe es eine unabhängige Ombudsstelle. Prävention sei das A und O. Und trotzdem lasse sich auch durch das feinmaschigste Netz nicht 100-prozentig verhindern, dass es nicht wieder zu Missbrauchsfällen kommen kann – in keiner Einrichtung dieser Welt. Aber auch für diesen Fall gebe es klare Abläufe, wie mit solchen Taten umgegangen wird. Ein Verschweigen wie vor über 40 Jahren sollte der Vergangenheit angehören. Gespräche und therapeutische Hilfe seien jederzeit möglich. Dafür ist es nie zu spät: Auch nach Jahrzehnten ist das noch wichtig. Andreas Volz
Info: Betroffenen des sexuellen Missbrauchs im Wächterheim bietet die Stiftung Tragwerk Unterstützung an. Sie können sich unter der Telefonnummer 0 70 21/5 00 80 melden.
Forschungsarbeit zum Thema Gewalt und sexualisierte Gewalt
Die Stiftung Tragwerk möchte es nicht bei Gesprächs- und Hilfsangeboten für die von sexuellem Missbrauch betroffenen Heimkinder belassen, sondern das Thema grundlegend aufarbeiten. Die Stiftung hat deshalb Dr. Gudrun Silberzahn-Jandt aus Esslingen mit einer Forschungsarbeit zum Thema Gewalt und sexualisierte Gewalt im Wächterheim und in der Paulinenpflege beauftragt.
Silberzahn-Jandt ist freiberufliche Kulturwissenschaftlerin. Sie hat Lehraufträge an mehreren Hochschulen. Unter anderen hat sie im Rahmen der Schriftenreihe des Esslinger Stadtarchivs eine Forschungsarbeit über „Esslingen am Neckar im System von Zwangssterilisation und ,Euthanasie‘ während des Nationalsozialismus“ oder im Auftrag der Diakonie Stetten eine Publikation über den Alltag in der Anstalt Stetten in den Jahren 1945 bis 1975 veröffentlicht. Anlass für die Stettener Studie waren die Berichte über Gewalt und Missbrauch in den Heimen der Behindertenhilfe.
Auch im Falle der Stiftung Tragwerk in Kirchheim soll die Geschichte ab den 60er-Jahren grundlegend aufgearbeitet werden und die Ergebnisse anschließend in Buchform und damit für alle zugänglich publiziert werden. „Wir nehmen diesen schrecklichen Fall zum Anlass, unsere Historie und die Strukturen grundlegend zu untersuchen“, betont Jürgen Knodel, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Tragwerk. Für die Recherchen sind im Moment zwei Jahre veranschlagt. ho