Der Großindustrielle und der Revolutionär: Dem einen gelingt alles, der andere scheitert. Beide kämpfen für eine bessere Zukunft, beide emigrieren in die USA – wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Auf Einladung des Kirchheimer Literaturbeirats gab Historiker Joachim Mohr Einblicke in das bewegte Leben von Jakob Friedrich Schöllkopf und Friedrich Tritschler.
Wie seine Protagonisten ist auch Mohr in Kirchheim aufgewachsen. Als Redakteur beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ widmete er sich geschichtlichen Themen. Im Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer veröffentlichte er seine Erzählung „Der Revolutionär, der Kapitalist und das Streben nach Glück“. Gleichermaßen spannend wie historisch informiert, zeichnet der Text ein plastisches Bild der Zeithintergründe. Motivation sei ihm gewesen, Friedrich Tritschler wieder ins Bewusstsein zu bringen, verriet Mohr seinen zahlreichen Hörern in der Kirchheimer Stadtbücherei. Heute erinnern eine Gedenktafel am Freihof und eine Straße im Steingau-Quartier an den nahezu vergessenen Freiheitskämpfer von 1848. Als Sohn eines Seifensieders wurde Tritschler 1810 in der Teckstadt geboren. Von 1828 an verbrachte er drei berufliche Wanderjahre in Frankreich – damals ein wichtiger Handelspartner Württembergs. Den demokratischen Idealen der Französischen Revolution mag er in dieser Zeit begegnet sein. Seine Lebensaufgabe findet Tritschler am 7. März 1848. Rund 350 Bürger versammeln sich im Kirchheimer Rathaus. Ihre Forderungen: freie Wahlen, Pressefreiheit und ein gesamtdeutsches Parlament. Bei dieser ersten freien Volksversammlung der Kirchheimer Stadtgeschichte tritt Tritschler als charismatischer Redner hervor.
Parallelen zur heutigen Zeit
Doch der Traum von Freiheit stirbt bereits ein Jahr später. Im absolutistischen Württemberg droht dem gescheiterten Demokraten eine lange Zuchthausstrafe. Tritschler flieht in die Schweiz und wandert 1850 in die USA aus. Dort will dem politisch Ernüchterten der Neustart nicht gelingen. 1859 stirbt Tritschler in bitterer Armut. Daran konnte auch die finanzielle Unterstützung seines Landsmannes Schöllkopf nichts ändern. Der Unternehmer war einer der reichsten Männer Amerikas. Mohr verglich Schöllkopf mit Rockefeller oder Bezos. Ausgewandert war der gelernte Gerber 1841. Die beengten Verhältnisse seiner württembergischen Heimat boten ihm keine Perspektive.
In der expandierenden Neuen Welt waren Lederwaren begehrt. Schöllkopf entwickelt ein maschinelles Gerbeverfahren, erweitert sein Unternehmen durch den Kauf von Getreidemühlen. Begünstigt von der Erfindung des Elektrodynamos beginnt er Ende der 1870er-Jahre die Wasserkraft der Niagarafälle zu nutzen. Schon bald versorgt „Schöllkopf-Strom“ den halben Staat New York mit Energie.
Historisches Wissen kann ein Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart sein. Mohr zeigte Parallelen zwischen den Lebenswelten seiner Protagonisten und heute auf. Mit dem politischen Flüchtling Tritschler und dem „Wirtschaftsflüchtling“ Schöllkopf rückte er das Reizthema Migration in den Fokus. Deutlich wurde auch: Bürgerrechte und Demokratie sind keine Selbstläufer, sie müssen erkämpft und verteidigt werden. Angesichts der Krise der Demokratie eine wertvolle Lektion.

