Neujahrsbrauch
Baden in Bissingen – auch wenn „dr Sai“ nicht eisfrei ist

Andreas Kenner motiviert Dutzende von Unerschrockenen, sich am ersten Tag des Jahres ins zwei Grad kalte Wasser zu wagen.

„Baden auf eigene Gefahr“: Dieser Hinweis gilt an Neujahr mehr denn je.       Foto: Carsten Riedl

Zwei Grad Wassertemperatur, neun Grad Lufttemperatur und die Wärme der winterlichen Sonne als Versprechen – das waren die Bedingungen, unter denen Dutzende Unerschrockener dem Aufruf des Kirchheimer SPD-Landtagsabgeordneten Andreas Kenner gefolgt waren, sich zum „Anbaden“ des neuen Jahres in den Bissinger Sai zu stürzen. Gefühlt waren es indessen zehn Mal so viele Menschen, die es vorzogen, in warme Kleidung, Mützen und Schals gewickelt, dem Spektakel als Zuschauer beizuwohnen.

Das ist eine reine Kopfsache.

Wolfgang Moll, Neujahrsbader der ersten Stunde über den Umgang mit der Kälte im Sai

An Neujahr 2021 war Premiere: Damals waren es gerade einmal sechs Personen gewesen, die sich die Erfrischung im Sai gönnen wollten. Anlass war einer der launigen Sprüche Andreas Kenners, in diesem Fall zum Neubau eines Hallenbads in Kirchheim: „Solange der See in Bissingen eisfrei ist, brauchen wir kein Hallenbad in Kirchheim.“ Weil er aber zu den Politikern gehört, die ihren Worten gerne Taten folgen lassen, war damit eine Tradition ins Leben gerufen, die jetzt immer mehr Anhänger zu finden scheint.

Ungewohnt kurz für seine Verhältnisse fiel Andreas Kenners Ansprache zum „Trudy-Ederle-Gedächtnisschwimmen“ aus: „Super, dass so viele komma send. Heut’ isch dr Sai zum erschta Mal et komplett eisfrei.“ Und schon kam der nächste flapsige Spruch, bezogen auf die aktuelle Bissinger Lokalpolitik: „I schlag vor, wer am längschda drin bleibt, isch dr neue Bürgermeischter von Bissinga.“ Gegenüber einem Urnengang habe diese Methode zwei Vorteile: „Es koscht et so viel, ond bei dene Temperatura heut’ könnt’s nach fünf Minuta im Sai scho entschieda sei.“

Schwäbisch ging es auch bei den Schaulustigen zu – und durchaus mitfühlend: „Siehsch du was?“ lautete die entscheidende Frage im Gedränge an der Uferböschung: „I frier’ scho so mit“, kam die Antwort. Immerhin handelte es sich nur um einen kleinen Randstreifen am Westufer – zur Seestraße hin –, der nicht zugefroren war.

Erstmals seit 2021 war der Bissinger See beim „Anbaden“ größtenteils von Eis bedeckt.       Foto: Carsten Riedl

Aber selbst die Eisbader hatten ihre Themen: „Foto macha – schnell“, rief einer aus dem Wasser seinen Bekannten am Ufer zu. Die Eile war nachvollziehbar, aber es sollte sich herausstellen, dass der Wunsch nach dem perfekten Bild wichtiger war als der Wunsch nach dem wärmenden Badetuch: „No mal“, hörte der Fotograf am Ufer. Sicher ist sicher: Wenn man schon ins Eiswasser steigt, will man eben auch den passenden Beweis vorzeigen können.

Einer der Fotografen verband gleich beides miteinander – das Fotografieren und das Baden: Teckboten-Fotograf Carsten Riedl stieg als erster ins Wasser, um aus der Innenperspektive heraus Schwimmer und Zuschauer gemeinsam in den Linsen-Fokus nehmen zu können.

„Des isch sicher g’sond“

Was treibt Menschen dazu, sich das anzutun? Bei den wenigsten ist es die selbstauferlegte Dienstpflicht. Bei einer Tasse Tee aus der Thermoskanne sinniert Andreas Kenner: „Des isch sicher g’sond.“ Nicht alle Ärzte würden dieser Aussage uneingeschränkt zustimmen. Bei entsprechenden Vorerkrankungen dürfte es nämlich eher ungesund sein. Aber andererseits hat ja die Abhärtung durchaus ihren Wert und ihre Berechtigung.

Wolfgang Moll aus Kirchheim, der gemeinsam mit seiner Frau Ilona zu den Eisbadern der ersten Stunde gehört, sprudelt nur so über vor Erklärungsansätzen, was ihn an Neujahr in den Sai treibt: „Weil ich das immer mache. Seit es das gibt, bin ich dabei.“ Dann bringt er die politische Komponente ins Spiel: „Es ist einfach schön, wenn man dabei sein kann, wie ein Politiker baden geht.“ Ansonsten lobt er „das prickelnde Gefühl“ und empfiehlt möglichen Nachahmern: „Einfach reingehen, ohne Anhalten, und alles wird gut. Das ist eine reine Kopfsache.“

Drei jüngere Frauen machen den Eindruck, als wollten sie gar nicht mehr raus aus dem Wasser. Sie unterhalten sich so entspannt im eisigen Nass, als stünden sie noch auf dem Weihnachtsmarkt bei einem Glühwein zusammen: Ginge es wirklich nach Andreas Kenners Spruch zur neuen Wahlmethode, dann stünde jetzt zumindest schon fest, dass Bissingen im neuen Jahr eine Bürgermeisterin bekommt.