Auf das Leben soll sie vorbereiten, die Schule. Mag die Aufgabe, die Praxis rein theoretisch zu vermitteln, immer schon schwierig gewesen sein, wird es jetzt noch komplexer, wie Marlon Lamour, Schulleiter der Kirchheimer Freihof-Realschule berichtet: „Viele Berufe, die unsere Schüler später einmal ausüben werden, gibt es heute noch gar nicht.“ Das wäre vergleichbar mit jemandem, der Mitte des 19. Jahrhunderts einen Wagenbau-Familienbetrieb hätte übernehmen sollen, den man aber in der Schule bereits darauf vorbereiten müsste, einmal als Kfz-Mechatroniker zu arbeiten. Zugegeben: Der Weg vom Wagner zum Mechatroniker hat sich über viele Generationen hingezogen, weshalb der Vergleich eigentlich gewaltig hinken müsste. Aber heutzutage kann es eben innerhalb von fünf bis zehn Jahren zu vergleichbaren Sprüngen kommen.
Vielfalt kann überfordern
Dadurch entsteht eine große Verunsicherung, zumal es auch in der Gegenwart immer unübersichtlicher geworden ist, welche beruflichen Möglichkeiten sich für Schulabgänger bieten. Natalie Wagner, Ausbildungsreferentin der Volksbank Mittlerer Neckar, stellt fest: „Durch die Vielfalt an Berufen und Studiengängen fühlen sich viele überfordert.“ Auch Jennifer Schuster vom Kirchheimer Unternehmen Elektroservice Schulz nennt ein Beispiel für den Wandel im Beruf: „Das Handwerk ist längst digital geworden. Da gibt es Arbeitsplätze für IT-Spezialisten, die gutes Geld verdienen können.“ Ein entsprechendes Studium ist dafür keine zwingende Voraussetzung mehr.
Diese Aussagen sind weniger für die Presse gedacht: Sie gehen direkt an eine neunte Klasse der Freihof-Realschule, die für den ersten Workshop von „Co-Working@School – Neue Wege in der Berufsorientierung“ ausgewählt wurde. Es geht darum, Schulen und Unternehmen zu verbinden und die Berufsorientierung noch stärker an der Praxis auszurichten, als das bislang der Fall ist.
Fünf Unternehmen sind an dem Pilotprojekt beteiligt: Außer den beiden bereits genannten – Volksbank und Elektroservice Schulz – sind das die Weilheimer Steuerberatungsgesellschaft KKG, das Kirchheimer Autohaus Schmauder & Rau sowie die Kirchheimer Stadtverwaltung. Die Stadt Kirchheim ist zwar kein Unternehmen im eigentlichen Sinn, aber als einer der größten Arbeitgeber rund um die Teck hat sie einen großen Bedarf an Nachwuchskräften.
Das Zusammentreffen von Schülern und möglichen Arbeitgebern hat für beide Seiten Vorteile. „Die jungen Menschen können sich dadurch in der beruflichen Praxis einbringen – und sie können dabei Selbstwirksamkeit erfahren“, sagt Anja Lippert-Hertle, die das Format gemeinsam mit Tanja Köhler entwickelt hat.
„Die lassen uns mitreden“
Die Schüler bestätigen das: „Ich finde es toll, dass wir so eng mit den Firmen zusammenarbeiten, dass die uns in ihre aktuellen Fragen einbeziehen – und uns mitreden lassen“, zeigt sich der Neuntklässler Marius begeistert. Sein Mitschüler Niklas hat sich für die Stadtverwaltung entschieden – für ein Projekt zur Begrünung von städtischen Flächen: „Unsere Ideen werden irgendwann im Gemeinderat vorgestellt“, freut er sich darüber, dass das, was da entsteht, einen praktischen Wert hat.
Sechs Nachmittage verbringen die Jugendlichen in den Betrieben – anstelle der Nachmittagsschule, die dieser Form der Berufsorientierung „geopfert“ wird. Projekte bestehen unter anderem darin, Jugendliche direkt anzusprechen, um Werbung für Ausbildungsberufe zu machen, in Form von Videoclips, die auf den angesagten digitalen Kanälen ausgespielt werden.
Nicht nur Berufe der Zukunft kommen zur Sprache, auch um die Arbeitswelt der Zukunft geht es: um mehr Teamarbeit, Flexibilität, Austausch. Deshalb ist auch der Ort der Veranstaltung nicht zufällig gewählt: der Co-Working-Space im Kirchheimer „Con4rent“. „Das ist richtig klasse, dass wir Future Work und New-Work-Formate auch in der passenden New-Work-Umgebung präsentieren können“, sagt Anja Lippert-Hertle, die sich über die Unterstützung von Gernot Bracher (Con4rent) ebenso freut wie über diejenige der beteiligten Betriebe und der Stiftung Bildung und Jugend.