Am Tag danach sitzt der Schock noch tief. Dirk und Maik Seiler, Geschäftsführer des Biomarkts auf dem Kirchheimer Nanz-Areal, stehen bei geöffneter Schiebetür im Eingang des Ladens und versuchen zu begreifen, was passiert ist. Rund 16 Stunden vorher hat ein Polizist genau an dieser Stelle erst seine Frau erschossen und dann in seinem Auto sich selbst. Das weibliche Opfer: eine der Angestellten des Biomarkts. „Sie war eine Top-Mitarbeiterin“, betont Maik Seiler: „Ein ganz liebe, nette Frau, die alle gern hatten.“
Völlig überraschend kam die Tat für die beiden Geschäftsführer allerdings nicht. „Unsere Mitarbeiterin hatte schon eine Ahnung“, erzählen Dirk und Maik Sailer. Zwei Tage zuvor habe sie das Gespräch mit ihnen gesucht. Dabei habe sie
um 180 Grad gedreht.
von einem sich zuspitzenden Konflikt mit ihrem Ehemann und von ihrer Angst berichtet, er könne ihr etwas antun. „Er hat sie wohl rausgeworfen, und sie ist bei ihrem Ex-Mann untergekommen“, will Dirk Seiler von ihr erfahren haben. Auch zum Hintergrund kann er etwas berichten: Der 59-Jährige Polizist habe vor einiger Zeit einen Unfall gehabt, von dem er sich nie mehr ganz erholt hat. „Danach hat er sich offenbar um 180 Grad gedreht.“
Immer wieder kommen an diesem Mittag Kunden zu dem Naturkostladen. Einkaufen können sie dort nicht. „Heute bleibt der Laden geschlossen“, informieren die Geschäftsführer. Zwar hat die Polizei den Tatort kurz zuvor verlassen und die Absperrbänder entfernt. Nach wie vor aber zeugen Blutspritzer am Türrahmen und Flecken auf dem Boden von der Gewalttat. Bevor Dirk und Maik Seiler den Laden wieder für den Publikumsverkehr freigeben, müssen sie noch die letzten Spuren der für viele unfassbaren Tat beseitigen.
Ob sie den Biomarkt am kommenden Tag wieder öffnen können, wissen die Geschäftsführer zu dem Zeitpunkt noch nicht. „Als die Tat geschah, waren noch zwei Mitarbeiterinnen im Laden“, erzählt Dirk Seiler. Eine von ihnen habe neben dem Opfer gestanden, als die Schüsse fielen. „Beide sind verständlicherweise im Moment nicht in der Lage zu arbeiten.“ Auf die Schnelle Ersatz zu finden, sei nicht einfach.
Im gesamten Steingauquartier ist die Betroffenheit groß am Tag nach dem Verbrechen. „Zehn Minuten zuvor war ich noch unten auf dem Parkplatz, um einer Freundin von uns Starthilfe für ihr Auto zu geben“, erinnert sich Christoph Tangl. Die Starthilfe schlug fehl, die beiden gingen zurück in die Wohnung. Dort erreichte sie per WhatsApp die Warnung eines weiteren Hausbewohners: Lieber mal im Haus bleiben, Verdacht auf Amoklauf!
Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt, ob auch Gefahr für Fremde bestehe. „Möglicherweise gab es einen Täter, der noch auf der Flucht war“, beschreibt eine andere Anwohnerin, deren Mann kurz nach der Tat zu Fuß heimkam, den Schrecken und das bange Warten auf neue Erkenntnisse. Familie Tangl ließ – wie viele andere auch – sicherheitshalber die Rollläden runter und funkte aus der geschützten Wohnung Entwarnung an die Familie: „Uns geht’s gut!“ Tatsächlich
breitete sich die Nachricht von den Schüssen im Herzen Kirchheims zu dieser Zeit schon wie ein Lauffeuer via Facebook und andere Kanäle aus. Auf diese Weise folgte auch eine Art Entwarnung, denn bald war in der Nachbarschaft klar, dass es sich um eine Beziehungstat handelte. Zumindest Gefahr für die Allgemeinheit bestand damit nicht mehr. Die Bekannte von Familie Tangl konnte sich wenig später von ihrem Freund abholen lassen. Ihr Twingo blieb stehen, denn den Parkplatz durfte niemand mehr betreten.
Nur am Rande hat Ali Narin, Inhaber des E-Centers im Nanz-Zentrum, die Ereignisse mitbekommen. „Ich habe einen Knall gehört“, berichtet er. Zunächst dachte er, dass etwas auf der Baustelle im Steingau-Areal umgestürzt sei. Als er von dem Vorfall erfuhr, schloss er zunächst den Getränkemarkt auf der Parkplatzebene. „Den Supermarkt habe ich dann um 20 vor neun schließen lassen.“ Um die Uhrzeit hätten alle Kunden den Laden verlassen. „Und aufgrund der Absperrungen ist sowie niemand mehr rein gekommen.“
In Geschäften, Friseurläden und Praxen in Kirchheim gibt es heute kein anderes Thema als die schreckliche Tat vom Mittwochabend. Die Frau, die von ihrem Mann erschossen wurde, hatte einen großen Bekanntenkreis. Sie stammt aus Nabern und hatte schon in mehreren Läden in der Kirchheimer Innenstadt gearbeitet. Ihre ehemaligen Kolleginnen, aber auch Kunden zeigen sich geschockt. Sie war beliebt, galt als zuverlässig, lustig und belastbar. Wer sie näher kannte, beschreibt sie mit positiven Worten: „Aufgeschlossen, sympathisch, leutselig – einfach eine nette Person“, urteilt eine Freundin, deren Kinder gemeinsam mit den Kindern des Opfers aus erster Ehe aufgewachsen sind. Sie weiß auch, dass die zweite Ehe nicht glücklich war, zumindest nicht mehr nach dem Unfall des Ehemannes. Sie hatte ihn lange Zeit gepflegt, wollte ihn aber verlassen. Deshalb habe er sie wenige Tage vor dem Mord rausgeworfen.