Zeit – das ist die entscheidende Dimension auf dem Campus Galli, in der karolingischen Klosterstadt bei Meßkirch. Rund 1200 Jahre alt ist der Plan, der zwischen Bodensee und Sigmaringen in die Realität umgesetzt wird. Angesichts dieser Zeit spielen die Jahrzehnte keine Rolle, die vergehen, bis eines Tages die große Klosterkirche fertiggestellt ist. Erst recht spielt die Fahrzeit keine Rolle, die man von Kirchheim aus einplanen muss, um auf die mittelalterliche Baustelle zu gelangen. Die Zeitreise vom 21. ins 9. Jahrhundert ist es allemal wert, drei Stunden für Hin- und Rückfahrt in Kauf zu nehmen: Für die Aufenthaltsdauer auf dem Campus reichen drei Stunden nämlich kaum aus, um richtig in die Vergangenheit einzutauchen.
Das Mittelalter wird umso stärker idealisiert, je weiter es zurückliegt. Rittertugenden tragen dazu ebenso bei wie die Vorstellung von einer klaren Struktur, in der alles und jeder seinen Platz hatte. Nicht zuletzt wird aus heutiger Sicht das Leben mit der Natur verklärt und als erstrebenswertes Ideal angesehen. Vorgelebt wird dieses Ideal in der karolingischen Klosterstadt, in der Handwerker und Gästeführer Kleidung tragen und Werkzeuge benutzen, wie es auch schon zur Zeit Karls des Großen und seiner Nachfolger möglich gewesen wäre.
So will es das Ideal des Vereins Campus Galli: Es geht darum, mit denselben Methoden ein Kloster zu erbauen, die auch zur Entstehungszeit des St. Galler Klosterplans zur Verfügung standen. Nicht immer lässt sich das bis ins kleinste Detail umsetzen. Schon am Eingang klären zwei Filme darüber auf: Auch auf einer Baustelle, die ins 9. Jahrhundert zurückführt, gelten die Arbeitsbestimmungen des 21. Jahrhunderts. Mitunter sind deswegen moderne Schutzbrillen, Sicherheitshandschuhe oder gar Helme vorgeschrieben. Der Brandschutz erfordert ähnliche Kompromisse: Die Scheune, das aktuell größte Gebäude, wird auch als Veranstaltungsraum genutzt und hat deswegen gleich vier Zugänge. Das wäre im Mittelalter nicht so gewesen, weil es für den eigentlichen Zweck einer Scheune eine gewaltige Platzverschwendung bedeutet. Dezent angebrachte Feuerlöscher sind ebenfalls ein notwendiges Zugeständnis an moderne Sicherheitsbestimmungen.
Das Mittelalter kennt keinen Abfall
Mülleimer braucht es für die authentisch mittelalterlichen Arbeiten natürlich nicht. Nachhaltigkeit war noch kein Begriff, als alles von selbst nachhaltig war und als alles wiederverwertet wurde. So auch auf dem Campus Galli: Abfall fällt keiner an. Weil aber die Besucher trotzdem aus dem
21. Jahrhundert kommen und weil sie Müll mit sich führen, sind die Abfalleimer auf dem Gelände dezent in Holz verkleidet. Bei den Versorgungsstationen auf dem „Marktplatz“ werden durchaus auch moderne Getränke in modernen Flaschen ausgegeben. Zur „Klosterwurst“ gibt es eine Papierserviette. Auch dabei handelt es sich um ein Zugeständnis an moderne Anforderungen – ebenso wie bei den Toilettenwagen. Hygienisch und olfaktorisch wäre das „echte“ Mittelalter in diesem Fall niemandem zumutbar.
Manche modernen Zeitreisenden haben auf dem „Marktplatz“ noch ein anderes Problem: Bezahlen ist nur mit Bargeld möglich, und nicht elektronisch. Raucher wiederum können – außer am Eingang – auch am „Marktplatz“ versteckt ihrem Laster frönen, das in Europa erst nach 1492 heimisch werden konnte. Sonja Fecht, Gästeführerin und Museumspädagogin, nennt noch einen weiteren Anachronismus auf dem „Marktplatz“: „Die Leute haben so oft nach Kaffee gefragt, dass wir den jetzt anbieten, mitten in unserem mittelalterlichen Dorf.“ Ansonsten gibt es – kulinarisch durchaus stilecht – Linsensuppe mit und ohne Wurst oder auch „Dennerle“ genannte Flammkuchen mit Käse oder Speck. Passend dazu lassen sich Met oder Met-Schorle aus dem Tonbecher genießen.
Wie funktioniert die Kommunikation über größere Entfernungen? Drei zeittypische Signale gibt es an der Holzkirche und dem benachbarten Turm: Die Zimbel ruft zur morgendlichen Versammlung. Wer will, kann sich vor Arbeitsbeginn einen Teil aus der Benediktsregel vorlesen lassen. Sonja Fecht erklärt dazu: „Das hilft enorm, wenn es darum geht, sich in die Gedankenwelt der Menschen hineinzuversetzen, die im 9. Jahrhundert ein Kloster gebaut haben.“ Das andere Alarmsignal ist das, was man an einer Kirche erwarten würde: eine Glocke, 2018 im dritten Anlauf erfolgreich vor Ort gegossen. Am weitesten hörbar ist allerdings die Tabula – ein Klangholz, das auf dem gesamten Gelände zu vernehmen ist und das außer Beginn und Ende der Arbeitszeit auch die Mittagspause anzeigt.
Handys sind eigentlich streng verpönt. Warum fast alle Mitarbeiter trotzdem ein solches Gerät in ihren mittelalterlich nachempfundenen Gewändern tragen? „Dafür gibt es zwei Gründe: Wir brauchen es immer wieder für die fotografische Dokumentation unserer Arbeit. Und falls es einmal einen medizinischen Notfall geben sollte, wäre es unklug, unter Verweis auf das 9. Jahrhundert auf die Hilfe moderner technischer Geräte zu verzichten.“
Selbstverständlich arbeiten Frauen mit
Frauen auf der Baustelle sind dagegen alles andere als ein Zugeständnis an moderne Zeiten der Gleichberechtigung, betont Sonja Fecht: „In der Zeit, in die wir uns mit Anlegen unserer Arbeitskleidung begeben, wäre das nicht ungewöhnlich gewesen, dass Frauen mitarbeiten.“ Die radikale Verbannung der Frau aus dem öffentlichen Leben und aus dem Arbeitsleben sei erst eine spätere Entwicklung der Kirche gewesen, ab dem Hochmittelalter.
Das größte Problem der karolingischen Zeit spricht Sonja Fecht direkt an: „Wir haben nur sehr wenige Quellen.“ Schriftliche Überlieferungen sind ebenso Mangelware wie archäologische Funde. Davor und nach danach gibt es sehr viel mehr Zeugnisse: „Kürzlich hat ein Kollege gefragt, warum wir kein Kloster aus der Merowingerzeit nachbauen können. Vieles wäre da so viel einfacher.“ Authentizität ist dennoch oberstes Gebot: „Für unsere Strohdächer mussten wir eigens Ur-Roggen anbauen. Der wird über zwei Meter hoch und liefert uns entsprechend langes Stroh.“ Ein Reetdach wäre nicht in Frage gekommen. Das wäre untypisch für die Reichenau, wo der Plan gezeichnet wurde, aber auch für St. Gallen, wo er nahezu seit seiner Entstehung aufbewahrt wird.
Überhaupt wird auf der Baustelle viel experimentiert, um Erfahrungen für die nächsten Gebäude zu sammeln. Ein Beispiel dafür ist der Paradiesgarten – ein Garten mit Obstbäumen, der auf dem Klosterplan auch als Friedhof eingezeichnet ist. Dass die Garten- oder Friedhofsmauer schon sehr früh entstanden ist, hat einen ganz praktischen Grund: „Wir konnten da ausprobieren, wie wir einen mittelalterlichen Mörtel anrühren können.“ Diese Mauer hat keine tragende Funktion, anders als in den Steinhäusern, die jetzt nach und nach entstehen sollen. Und auch beim Mauerwerk spielt die Sicherheit eine große Rolle: „Untersucht wird unser Mörtel von der Hochschule Konstanz. Außerdem müssen wir von jeder Mischung eine Probe aufbewahren. Sicher ist sicher.“
Auch das Maß aller Dinge ist ein Kompromiss zwischen Mittelalter und Neuzeit: Der Fuß unterteilt sich in vier Handbreit, die Handbreit wiederum in vier Fingerbreit. „Architekten und Behörden arbeiten aber trotzdem in Metern und Zentimetern. Deswegen ist unser Fuß 32 Zentimeter lang.“ Das erleichtert die Umrechnung: Eine Handbreit sind demnach acht Zentimeter und ein Fingerbreit zwei Zentimeter.
Den Wechsel zwischen den Jahrhunderten empfindet Sonja Fecht als reizvoll: „Wenn wir Feierabend haben, gehen wir alle wieder zurück ins 21. Jahrhundert.“ Die Arbeit auf dem Campus unterscheide sich aber dennoch deutlich von der Schauspielerei: „Wir sind ja trotzdem Menschen aus unserer Zeit. Wir bleiben bei unseren Namen und sprechen auch kein gekünsteltes altertümelndes Deutsch.“
In der karolingischen Klosterstadt wird also kein ideales Mittelalter vorgegaukelt. Ein Ideal stellt einzig und allein der Klosterplan dar. Sonja Fecht sagt dazu: „Das ist kein Bauplan aus unserer Zeit. Es ist wahrscheinlich überhaupt kein Bauplan. Der Plan soll eher die ideale Anlage eines Klosters zeigen.“ Ein gewisser Nachteil: „Er liegt uns nur zweidimensional vor. Wir haben also nur die Grundrisse. Uns fehlen alle Angaben zu Maßen und Höhen – von der Innenausstattung ganz abgesehen.“ Um die dritte Dimension, um das Räumliche, muss das gesamte Team also jeden Tag neu ringen. Ein Problem dagegen gibt es nicht: Die vierte Dimension ist reichlich vorhanden – Zeit.
Info Wer länger auf dem Campus verweilen will, findet dazu ideale Bedingungen: Auf der Homepage www.campus-galli.de/mitmachen/ kann man sich für die freiwillige Mitarbeit bewerben – meistens für eine Woche.