Familiengeschichte
Die Rückkehr des alten Glücksbringers

Ruth Winter übergibt ein Kettchen an Roberto Frankenthal. 84 Jahre lang hatte es die gebürtige Kirchheimerin verwahrt, bis sie es nun an die Nachfahren ihrer einstigen jüdischen Nachbarn zurückgeben konnte.

Ruth Winter übergibt ihre Erinnerungsstücke an die Kirchheimer Familie Vollweiler an Roberto Frankenthal – darunter auch das kleine, unscheinbare Kettchen, das innerhalb der Familie als Glücksbringer gegolten hat.       Foto: Carsten Riedl

Es wurde als eine Art Talisman betrachtet, als Glücksbringer – und das über mehrere Generationen hinweg: ein kleines, beinahe unscheinbares Kettchen. Nach rund 84 Jahren ist diese Kette nun wieder zu den Nachfahren der Familie Vollweiler zurückgekehrt, in Kirchheim. 1940 hatten sich die Eltern von Ruth Vollweiler endgültig gezwungen gesehen, nun auch selbst mit ihrer Tochter das Haus in der Stuttgarter Straße und damit sowohl die Heimatstadt als auch das Heimatland zu verlassen. Sie folgten damals den drei Söhnen, die bereits zuvor in die USA beziehungsweise nach Argentinien ausgewandert waren.

Einer der Söhne – Kurt Vollweiler – war einst eine feste Sportgröße in Kirchheim. Er war der Stammtorhüter des VfB Kirchheim. Der staatliche Antisemitismus während der NS-Herrschaft degradierte ihn allerdings Stück für Stück: Zunächst war es ihm als Jude untersagt, gemeinsam mit seinen Fußballkameraden aufs Feld zu laufen. Er durfte aber wenigstens noch mitspielen. Einige Zeit später war ihm auch das nicht mehr erlaubt. Von außen schaute er zu, wie seine Mannschaft ohne ihn zurechtkommen musste. Als er Kirchheim schließlich verließ, hatte er gerade einmal zehn Mark in der Tasche, um sich auf der anderen Seite des Atlantiks ein neues Leben aufbauen zu können.

Das wurde nie angesprochen – war aber trotzdem immer da.

Roberto Frankenthal über die Schicksale seiner Familien in der Zeit des Holocaust

 

Diese Geschichten hat Brigitte Kneher oft erzählt – immer wieder im Rahmen der jährlichen Holocaust-Gedenkstunde am Schlossgymnasium: Nachdem sie die Geschichte der Juden Kirchheims erforscht hatte, war sie es auch gewesen, die in den 1980er-Jahren Kontakt zu den Überlebenden aufgenommen hatte. Es kam zu denkwürdigen Begegnungen in der alten Heimatstadt. Auch Mitglieder der Familie Vollweiler waren vor bald 40 Jahren zu Besuch in Kirchheim. Noch vor sechs Jahren konnte Brigitte Kneher eine Großnichte des einstigen Torwarts durch Kirchheim führen – Nadia Vollweiler aus Argentinien.

„Wie meine große Schwester“

Berichte des Teckboten über Brigitte Kneher und die jüdischen Familien Kirchheims haben irgendwann auch Ruth Winter erreicht, die heute 87 Jahre alt ist: Als kleines Mädchen war sie die Nachbarin der Familie Vollweiler: „Ruth war für mich wie meine große Schwester. Von ihr habe ich auch meinen Vornamen. Ihre Mutter Johanna war wie eine Mutter zu mir.“ Auch wenn sie noch sehr jung war, als Johanna und Moritz Vollweiler gemeinsam mit der Tochter Ruth Kirchheim verließen, sagt sie: „Ich weiß noch sehr viel, und ich kann mich gut an diese Zeit erinnern.“

Der Name Ruth Vollweiler ist in letzter Zeit ebenfalls häufiger im Teckboten aufgetaucht: Sie war die Stiefmutter von Roberto Frankenthal, der sich seit einigen Jahren dafür einsetzt, dass auch für die Familie Vollweiler in Kirchheim Stolpersteine verlegt werden. Die Stolpersteine sollen nicht mehr ausschließlich an die getöteten Opfer des Nationalsozialismus erinnern, sondern auch an diejenigen, die zwar überlebten, aber trotzdem ihr altes Leben in der Heimat verloren hatten.

Ruth Winter lebt schon seit vielen Jahren im bayerischen Neuburg an der Donau. Aber die Zeitungsberichte über die zehn Jahre ältere Ruth Vollweiler haben sie stark bewegt – weil sie eben noch immer den familiären Glücksbringer in Verwahrung hatte. „Diese Kette ist nichts Wertvolles“, sagt sie. Aber sie habe dennoch einen hohen ideellen Wert gehabt. Ein fremder Mann habe sie einst gefunden und sie dann spontan an die Ururgroßmutter von Ruth Vollweiler weitergeschenkt. Als Braut habe der Mann ihr die Kette einfach um den Hals gelegt.

Weil Johanna Vollweiler noch nicht einmal dieses unscheinbare Kettchen hätte mitnehmen können, hat sie es ihrer Nachbarin gegeben. „Meine Mutter hat diese Kette bekommen“, erzählt Ruth Winter, „und sie sollte sie mir geben – an dem Tag, an dem ich einmal heirate.“ Leider habe die Mutter ihr die Kette erst viel später gegeben. Erst bei ihrer zweiten Eheschließung habe sie das Kettchen am Arm getragen. Für Ruth Winter steht bis heute fest, dass ihre zweite Ehe wegen dieses Talismans glücklich verlaufen ist.

Jetzt aber war es ihr ein Bedürfnis, den Glücksbringer an die eigentliche Familie zurückzugeben. Sie hat sich zu diesem Zweck eigens nach Kirchheim chauffieren lassen, und Roberto Frankenthal hat dazu bei einem Aufenthalt in Stuttgart einen Abstecher gemacht. Ruth Winter hat dadurch ihren Frieden mit dieser Geschichte geschlossen, weil sie es noch in Ordnung bringen und den Kreis wieder schließen konnte: „Ich habe viele Jahre meine Probleme gehabt mit den Erinnerungen, und ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich an diese Zeit zurückdenke.“

Vergangenes hinter sich lassen

Das Erinnern war auch auf der anderen Seite des Ozeans eine schwierige Sache, wie Roberto Frankenthal berichtet. Auf die Frage, was Ruth Vollweiler über Flucht und Vertreibung erzählt habe, antwortet er mehrsprachig: „nada, nix, niente, nothing“. Keiner habe darüber gesprochen: „Sie wollten nach ihrem Neuanfang nach vorne blicken und das Vergangene hinter sich lassen.“

Auch bei seinem Vater, der aus Kassel stammte, sei das so gewesen. „Einmal habe ich ihn nach einer Narbe an der Hand gefragt, und da hat er erklärt: ,Das war die Hitlerjugend.’ Mehr als das hat er nie erzählt.“ Er selbst habe vor allem in der Deutschen Schule in Buenos Aires etwas über den Holocaust erfahren, nicht aus der Familie. Wenn er dann doch nachgefragt hat, warum nicht gesprochen wird, hieß es: „Das ist zu schmerzhaft.“ Oder: „Ich will dich damit nicht belasten.“ Das habe aber nicht wirklich funktioniert: „Das wurde nicht angesprochen – war aber trotzdem immer da.“

Ein Spatzenbrett als Mitbringsel

Roberto Frankenthal erinnert sich besonders gerne an die gelöste Stimmung, wenn Ruth Vollweiler ihren Bruder Fritz getroffen hat, der schon einige Zeit früher nach Argentinien gegangen war und dort für seine Eltern und seine Schwester gebürgt hatte: „Das war eine besondere Verbindung zwischen den beiden. Ruth konnte mit Fritz so herzlich lachen – wie sie es sonst nie getan hat.“ Den Grund dafür konnte er sprachlich allerdings nicht nachvollziehen: „Die haben Schwäbisch miteinander gesprochen. Und da hat es mir nichts genutzt, dass ich auf der Deutschen Schule war.“ Und noch etwas Schwäbisches hatte sich Ruth Vollweiler bis zu ihrem Tod 2001 bewahrt: „Als ich später hier im Ländle gewohnt habe, musste ich ihr ein Spatzenbrett und einen Schaber mitbringen.“