Abitur
Dystopien dominieren die Deutsch-Aufsätze

Am Dienstag haben an den allgemeinbildenden Gymnasien die schriftlichen Prüfungen begonnen. In Kirchheim treten 227 Kandidaten am Schloss- und am Ludwig-Uhland-Gymnasium an.

Trotz aller Anspannung herrschte vor Beginn der Prüfung am Schlossgymnasium eine vergleichsweise gelöste Stimmung vor.      Foto: Andreas Volz

Alles ist ganz anders beim schriftlichen Abitur: Der Prüfungszeitraum zieht sich in die Länge, weil in immer mehr Fächern Aufgaben gestellt werden, die aus einem bundesweit einheitlichen Pool stammen. So haben am Dienstag die schriftlichen Prüfungen an den allgemeinbildenden Gymnasien begonnen. Erst am 21. Mai gibt es die letzten Prüfungen im Haupttermin. Dazu kommt noch, dass die beruflichen Gymnasien ganz andere Termine hatten. Begonnen hatte es bereits am 1. April. Letzter Tag der schriftlichen Prüfungen ist deswegen bereits jetzt am Mittwoch, 30. April.

An einem Punkt aber ist auf alte Traditionen zurückgegriffen worden: Zum Auftakt gab es den Deutsch-Aufsatz – auch wenn er längst nicht mehr zur Pflicht gehört. Am Schlossgymnasium fand sich somit noch ein knappes Drittel der Abiturienten zum Aufsatzschreiben ein, 31 von 100. Am Ludwig-Uhland-Gymnasium dagegen war fast die Hälfte mit von der Partie, 59 von 127 Reifeprüflingen. 315 Minuten hatten sie Zeit, um ihre Gedanken aufs Papier zu bringen.

Unabhängige Rechtsprechung?

Wie so oft, setzte ein Großteil auf die Pflichtlektüre als vermeintlich „sichere Bank“. In diesem Fall ging es um „Corpus Delicti. Ein Prozess“ – einen dystopischen Roman von Juli Zeh. Anhand eines Texts aus der Sekundärliteratur mussten sich die Abiturienten mit der Frage auseinandersetzen, inwiefern die Justiz im Roman tatsächlich eine unabhängige Rechtsprechung anstrebt. Viel eher erscheint es nämlich so, dass Richter, Staatsanwaltschaft und sogar der Verteidiger von den gleichen Zielen gelenkt werden: im Sinne der Staatsideologie zu agieren – wie es in totalitären Staaten immer schon üblich war und ist. Auch wenn es sich um die Pflichtlektüre handelte, war es doch ein sehr brisantes, aktuelles Thema, das weit über die Literatur hinaus von Bedeutung ist. 45 von 90 Abi­tursaufsätzen sind in Kirchheim zu dieser Aufgabe entstanden – 18 am Schloss- und 27 am Ludwig-Uhland-Gymnasium.

Ebenfalls politisch aufgeladen ist der Text, der zur Gedichtinterpretation im Angebot war – ein vierstrophiges Gedicht von Arno Holz, das mit den Worten beginnt: „Die Nacht verrinnt, der Morgen dämmert“. Inhaltlich ist dieser Text ähnlich dystopisch wie Juli Zehs Roman. Allerdings geht es nicht um eine nahe Zukunft, sondern um die Gegenwart im Entstehungsjahr 1886. Angeprangert wird der Kapitalismus in der Blütezeit des Industriezeitalters – ebenso wie der Militarismus der Wilhelminischen Epoche. Eine der Kernaussagen ist die Klage: „… auch der Mensch wird zur Maschine“. Zwar fordert der Text implizit dazu auf, der industriellen auch die proletarische Revolution folgen zu lasen. Aber es schwingt auch ein resignierter Zweifel daran mit, ob es denn tatsächlich jemals dazu kommen könnte. Verhalten waren die Reaktionen in Kirchheim auf diese Aufgabe: Neun mal wurde sie gewählt – fünf Mal am „Schloss“ und vier Mal am LUG.

Blick auf die neuen Medien

Die Visionen von Gegenwart und Zukunft waren auch bei den anderen Aufgaben nicht optimistischer: Bei der Textanalyse – die lediglich am Schlossgymnasium gewählt wurde, und zwar sieben Mal – ging es um einen Text aus der „Zeit“, der den Übergang von der Schriftlichkeit hin zur „neuen Mündlichkeit“ kritisch betrachtet. Sprachnachrichten und Podcasts lösen demzufolge Texte und Bilder ab und führen zu einem medialen „Wischiwaschi“ anstelle einer geschriebenen Verbindlichkeit.

Das vierte Thema, das zur Auswahl stand, war ein Kommentar zur „Rolle der sozialen Medien im politischen Diskurs“. Die mitgelieferten Materialien feiern zunächst einmal eine „Demokratisierung“, die dadurch zum Ausdruck kommt, dass die sozialen Medien interaktiv sind und dass sich alle auch als Autoren am Diskurs beteiligen können. Zugleich warnen sie aber davor, dass der Dialog, der da grundsätzlich gefördert wird, trotz allem nicht stattfindet, wenn alle nur noch in ihrer eigenen Filterblase leben. Während am Schlossgymnasium zu dieser ebenfalls brisanten und dystopischen Fragestellung nur ein Aufsatz entstanden ist, hat das Thema am LUG sogar noch die Pflichtlektüre ausgestochen: 28 Abiturienten haben sich für das „materialgestützte Schreiben“ entschieden.

Material für die Korrektoren haben alle zusammen damit sicherlich zur Genüge geliefert.