Es sollten hundert Jahre libanesischer Geschichte sein, die Pierre Jarawan in seinen ersten drei Romanen abdecken wollte. Zumindest dient die wechselvolle Geschichte des Zedernstaats in allen drei Büchern stets als Hintergrundfolie. Immer sind seine Protagonisten auf der Suche nach Geheimnissen, und immer führt sie diese Suche früher oder später in den Libanon.
Die Geheimnisse betreffen die Familie und deren Herkunft. Jede Geschichte erzählt eine Reise. In seinem neuesten Werk mit dem Titel „Frau im Mond“ lässt Pierre Jarawan – in Kirchheim aufgewachsener Wahl-Münchner – seine Heldin Lilit el Shami sogar explizit über die Heldenreise reflektieren: „Alles endet damit, dass wir verändert heimkehren.“
Die Reise zu sich selbst
Lilit reist aber nicht nur in den Libanon, um hinter das Geheimnis ihrer Großmutter Anoush zu kommen, die ein Jahr vor ihrer Geburt in Montréal gestorben ist. Lilit findet auch in sich selbst Antworten. Sie hat Traumata ihrer Großmutter übernommen. Ihre Abenteuerreise führt sie also zum einen um die halbe Welt und zum anderen in ihr eigenes Innerstes.
Eine zentrale Figur ist Großvater Maroun: Er erzieht Lilit und ihre Zwillingsschwester Lina nach dem Unfalltod der Eltern. Er ist derjenige, der im Roman die „Lebanese Rocket Society“ ins Leben ruft, die in den 1960er-Jahren tatsächlich ein ambitioniertes Raumfahrtprogramm betrieben hatte. Am 4. August 1966 startete die letzte der „Cedar“-Raketen.
„Diese Geschichte wirkt ja völlig absurd“, sagt Pierre Jarawan im Telefongespräch. „2017 habe ich zum ersten Mal davon gehört und dachte, das kann doch gar nicht sein, das müssten wir doch wissen.“ Die „Lebanese Rocket Society“ hat ihn von Anfang an fasziniert und nicht wieder losgelassen.
Zum Roman verfestigte sich der Stoff erst am 4. August 2020: Exakt 54 Jahre nach dem bislang letzten libanesischen Raketenstart explodierten in einem Lagerhaus im Hafen von Beirut 2750 Tonnen Ammoniumnitrat – eine der größten künstlichen, nichtnuklearen Explosionen, die es jemals gab. Beide Ereignisse gehören im Roman zusammen: der Raketenstart und die Explosionskatastrophe. Nicht zufällig dient Ammoniumnitrat auch als Raketentreibstoff.
Traum und Albtraum
Pierre Jarawan arbeitet hier viel mit Doppelungen und Spiegelungen: Lilit und Lina sind nicht das einzige Zwillingspaar. Montréal und Beirut sind zwei Hafenstädte. In Kanada gibt es zwei Schiffe – auf denen Mitglieder der Familie el Shami geboren werden, aber auch sterben.
Leben und Sterben ist auch mit dem Datum 4. August verbunden, wie Pierre Jarawan erzählt: „1966 ist da der Höhepunkt eines Traums, wenn die Rakete den Weltraum erreicht, und auf der anderen Seite gibt es 2020 mit der verheerenden Explosion den Höhepunkt eines Albtraums.“
Die Explosion wollte der Autor bewusst „nicht auserzählen“. Es ging ihm vielmehr darum, „die Menschen im Moment der Hoffnung darzustellen und die Opfergeschichten aufzubrechen“. Tatsächlich macht sein Buch Mut, indem es dazu aufruft, Generation für Generation, das Leben selbst in die Hand zu nehmen und seine Träume zu verwirklichen.
Schwer genug haben es die Figuren. Anoush lebte im Libanon, bevor ihre Adoptiveltern sie mit zu sich nach Kanada nahmen. Aber geboren wurde sie in Zentralanatolien – als Armenierin. Unter schrecklichen Strapazen überlebte sie als kleines Kind den Völkermord, nur um in einem Waisenhaus bei Beirut neue Qualen über sich ergehen lassen zu müssen.
Das armenische Thema ergab sich von selbst: „Die meisten Mitglieder der Rocket Society waren Armenier, und deshalb musste ich erklären, wie die Armenier in den Libanon kamen.“ Auch sonst musste er vieles „zusammenzimmern“: zum Beispiel den hundertjährigen Großvater. „Der musste einfach so alt werden, weil ich nicht noch eine weitere Generation einbauen wollte.“ Und so erfüllt die Romanfigur Maroun die Vision ihres Autors – hundert Jahre libanesische Geschichte abzubilden.
Countdown für 50 Kapitel
Der Titel „Frau im Mond“ ist sehr vielschichtig. Er bezieht sich bei weitem nicht nur auf den gleichnamigen Film von Fritz Lang. Lang hat in diesem Film übrigens den Countdown erfunden, wie Pierre Jarawan erzählt. Deshalb zählt er auch die Kapitel seines Romans rückwärts, von Fünfzig bis Null. Andererseits „zündet“ er in den größeren Abschnitten des Buchs „drei Stufen“. Was er ebenfalls beiläufig erwähnt: Auch die „Luna Parks“ sind dem Science-Fiction-Genre zu verdanken. In Coney Island war 1903 der erste „Luna Park“ entstanden, benannt nach der Hauptattraktion – dem Mondschiff „Luna“.
Das Buch ist jetzt in den Handel gekommen – und schon startet Pierre Jarawans Marketingtour: Am Sonntag stellt er es in Berlin der Öffentlichkeit vor. Am Montag folgt Bad Rappenau, und die dritte Lesung führt ihn am Dienstag, 8. April, in einen seiner wichtigsten Heimatorte – in die Kirchheimer Bastion. Beginn ist um 19 Uhr.