Vor wenigen Tagen haben islamistische Rebellen Aleppo im Norden Syriens eingenommen und inzwischen auch die Hauptstadt Damaskus. Das Ende des Assad-Regimes eröffnet nun auch Chancen auf einen Neubeginn. Wie geht es Syrern in Kirchheim dieser Tage? Wie schätzen sie die Entwicklungen ein?
Kamal Osman betrachtet die Lage in Syriens zweitgrößter Stadt mit Sorge. Seit 2016 lebt der junge Mann in Kirchheim. Kamal ist Kurde. Damit gehört er einer Minderheit an. „Das Regime von Assad behandelte Kurden als Bürger zweiter Klasse“, erzählt er. Es garantierte aber auch so viel Stabilität, dass er vor dem Krieg in Aleppo ein Universitätsstudium aufnehmen konnte. Doch dann machte der Bürgerkrieg Kamals Familie zu Flüchtlingen im eigenen Land. Extremisten hielten Mutter und Schwester ein Jahr gefangen, bis Kamals Vater sie freikaufen konnte. Derzeit leben Mutter und Geschwister in einem kurdischen Viertel mitten in Aleppo. Auf die Straße wagen sie sich nicht. Auch viele Christen suchten jetzt bei ihren kurdischen Nachbarn Schutz vor den Islamisten, berichtet Kamal. Er befürchtet, dass seine Angehörigen erneut Opfer extremistischer Gewalt werden könnten. „Die Kurden haben Angst“, sagt er, „sie haben schlimme Erfahrungen gemacht.“
Gewaltvideos schüren Angst
Angst schüren zudem die sozialen Netzwerke. Ein Video, das auch deutsche Medien verbreiten, soll kurdische Frauen in der Gewalt von Dschihadisten zeigen. Islamisten bringen solche Gewaltvideos kalkuliert in Umlauf, meint Kamal: „Zivilisten ergreifen nur aufgrund dieser Bilder die Flucht.“
Etwas optimistischer verfolgen Ali und Nahed Mansour die aktuellen Entwicklungen. „Wir haben gemischte Gefühle“, sagt Nahed, „Trauer und Glück, Angst und Hoffnung.“ Die letzten Tage glichen einer emotionalen Achterbahn. Denn der Einzug der Aufständischen machte etwas wahr, was vor Kurzem noch undenkbar schien. Nach vielen Jahren der Trennung konnten sich ihre in Syrien verbliebenen Geschwister wieder umarmen, gemeinsam mit ihren Eltern wieder Tee trinken. Und das, obwohl sie nur eine halbe Autostunde voneinander entfernt leben. Doch zwischen Aleppo und Idlib war lange kein Durchkommen mehr. Nun sind die Grenzen gefallen, Tausende Familien wieder vereint. Die Last der Diktatur Assads ist weg: „Das fühlt sich wie eine Befreiung an“, strahlt Nahed. Ihre Freunde und Verwandten in Aleppo hätten keine Angst vor den Rebellen, sagt sie. Jedoch vor Vergeltungsschlägen aus der Luft, die Assad mit russischer Hilfe führen könnte. Die Rebellen verteilen Brot und sprechen von Wiederaufbau. Viele von ihnen seien Einheimische, die Aleppo nach der Belagerung im Jahr 2016 verlassen mussten, sagen Mansours. Das erkenne man an ihrem Dialekt. Aber ist den versöhnlichen Tönen zu trauen? „Ich bin froh, dass Assad weg ist“, sagt Ali, „aber ich bin auch skeptisch, denn niemand weiß, was danach kommt.“ Bei Familie Mansour weckt der Niedergang des Assad-Regimes große Hoffnungen: auf ein demokratisches Syrien, auf Rückkehr der Millionen von Flüchtlingen und darauf, schon bald die eigenen Verwandten in die Arme zu schließen: „Wir warten gemeinsam ab, was passiert – und hoffen!“