Literatur
Erinnern in Kirchheim: Von einem, der seine Stimme nie verlor

Oskar Maria Graf verlangte in der Nazi-Zeit, seine Bücher zu verbrennen. Michael Stacheder erinnert in Kirchheim an den Schriftsteller und seine immer noch aktuelle Botschaft. 

Dramaturg und Autor Michael Stacheder ist auf Einladung des Kirchheimer Literaturbeirats in die Tecksdtadt gekommen. Foto: Florian Stegmaier

Von einem „bayerischen Tolstoi“ war die Rede – und auch wenn diese Etikettierung auf den ersten Blick kühn erscheinen mag, gewinnt sie an Glaubwürdigkeit, wenn man Michael Stacheders Lesung in der Kirchheimer Stadtbücherei lauschte. Auf Einladung des Literaturbeirats ließ der Münchner Schauspieler und Dramaturg den Schriftsteller Oskar Maria Graf wieder auferstehen – nicht als bärtige Heimatschmonzette, sondern als Chronisten der Kälte, Gewalt und Sprachlosigkeit einer Gesellschaft auf dem Weg in die Barbarei.
Der Abend stand unter dem düsteren Stern des 10. Mai – jenem Datum, an dem 1933 die Nationalsozialisten in zahlreichen deutschen Städten Bücher in Flammen setzten.

Lesen Sie Oskar Maria Graf - jetzt erst recht. Er hat uns noch immer viel zu sagen.

Michael Stacheder hält den Schriftsteller für aktueller denn je.

Was damals in Berlin auf dem Opernplatz begann, war ein Fanal des kulturellen Kahlschlags, eine symbolische Auslöschung dessen, was nicht in das krude Weltbild der neuen Machthaber passte. Dass Oskar Maria Grafs Werke dabei nicht verbrannt wurden, war für den Autor kein Grund zur Erleichterung, sondern zur Empörung. „Verbrennt mich!“ – mit diesem erschütternden Aufruf distanzierte sich Graf zwei Tage später in der Wiener Arbeiterzeitung unmissverständlich vom Regime, das er früh durchschaute und zeitlebens bekämpfte. Stacheder eröffnete seine Lesung mit eben jenem Aufruf – ein Paukenschlag, der den Ton des Abends setzte. Es folgte „Die Puppen“, eine Erzählung von fast schmerzhafter Klarheit, die tief in ein oberbayerisches Dorf nach dem Ersten Weltkrieg führt. Kein Postkartenidyll, sondern ein Seelenpanorama: Armut, Missbrauch, kollektives Wegsehen – Grafs Sprache ist klar, seine Beobachtung gnadenlos, sein Realismus brutal. Ein traumatisiertes Kind, das in der Geschichte zunehmend in eine Spirale der Gewalt gedrängt wird, wird zum stummen Symbol einer Gesellschaft, die sich ihre Stabilität durch Sündenböcke erkauft.

Grafs Milieustudie gewährt Einblick in den Vorhof des Faschismus. Michael Stacheder las mit feinem Gespür für den Rhythmus der Prosa, ohne in Pathos oder Sentimentalität zu verfallen. Authentische Sprachfärbung und gestalterische Kraft verhalfen dem Text zu szenischer Prägnanz. Dass die geschilderte Drastik nicht bloß literarische Fiktion, sondern gelebte Realität war, unterstrich Stacheder mit biografischen Zwischentönen.

Oskar Maria Graf, 1894 in Berg am Starnberger See als neuntes von elf Kindern eines Bäckers geboren, kannte Armut und Gewalt aus eigener Erfahrung. Seine Flucht aus der bäuerlichen Enge, seine politische Radikalisierung, seine Exilerfahrung – all das klingt in seinen Texten nach. Und bleibt, wie Stacheder betonte, verstörend aktuell. Nach der beklemmenden Seelenschau in „Die Puppen“ setzte der Schauspieler mit der Kurzgeschichte „Der Leberkäs“ einen augenzwinkernden Kontrapunkt. Denn Graf war nicht nur ein Analytiker der Abgründe, sondern auch ein Liebhaber des Grotesken, der das Derbe, das Schräge und das Komische mit meisterhafter Leichtigkeit beherrschte. Am Ende stand Stacheders Appell: „Lesen Sie Oskar Maria Graf – er hat uns noch immer viel zu sagen.“

In einer Zeit, in der der Ton rauer wird und einfache Wahrheiten Konjunktur haben, erinnerte die Lesung daran, wie wichtig literarische Unbequemlichkeit bleibt. Der literarische Weltbürger Graf war mehr als ein Volksschriftsteller – er war ein genauer Beobachter, der seine Stimme nie verlor, auch nicht dann, als es gefährlich wurde.