Gedenken an den Holocaust: In welcher Form hat das in den vergangenen 80 Jahren stattgefunden – also seit der Zeit, als die letzten Überlebenden im Konzentrationslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit worden sind? Dieser Frage ist das Kirchheimer Schlossgymnasium zum 80. Jahrestag nachgegangen. Schon unmittelbar nach der Befreiung von Auschwitz sind Bilder aus dem Lager um die Welt gegangen, berichtet Geschichtslehrer Jonas Takors den versammelten Neuntklässlern. Diese Bilder hatten überall dieselbe Wirkung: „Die Welt war schockiert.“ In Deutschland ist die Erinnerung aber erst einmal komplett verdrängt worden. „Erst in den 1960er-Jahren hat die Aufarbeitung begonnen. Inzwischen ist diese Aufarbeitung längst zu einem Teil der Identität unsere Landes geworden.“
Die Welt war schockiert.
Jonas Takors über die Wirkung der ersten Bilder aus Auschwitz vor 80 Jahren
Erinnerungen sind schon seit dem unmittelbaren Erleben dokumentiert – etwa in Zeichnungen, die Helga Weissová in ihrer frühen Jugend in Theresienstadt angefertigt hat. Auf einem dieser Bilder malt sie sich aus, wie sie eines Tages gemeinsam mit ihrer besten Freunden in ihrer Heimatstadt Prag spazieren geht und wie beide einen Kinderwagen schieben. Dazu sollte es nicht kommen: Nur die Zeichnerin ist später nach Prag zurückgekehrt. Die Freundin hat den Holocaust nicht überlebt.
Die gebürtige Wienerin Ruth Klüger kam zunächst ebenfalls nach Theresienstadt. Überlebt hat sie, weil sie wohlmeinenden Ratschlägen gefolgt war und sich als 15-Jährige ausgegeben hat, obwohl sie gerade einmal zwölf Jahre alt war. So galt sie als „arbeitsfähig“, was ihre Überlebenschancen erhöhte. Später hat sie ihre Erinnerungen in dem Buch „Weiter leben. Eine Jugend“ festgehalten.
Erinnerungen aus erster Hand
Solche Erinnerungen aus erster Hand sind es, die über persönliche Schicksale informieren. Jonas Takors rät den Neuntklässlern deshalb dazu, Erlebnisberichte zu lesen – und Gedenkstätten zu besuchen. „Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen. Dadurch fehlt eurer Generation die direkte Verbindung zur Vergangenheit.“ Die Digitalisierung biete zwar einerseits die Möglichkeit, sehr schnell sehr viele Dokumente und Berichte zu finden. Sie berge aber zugleich die Gefahr, auf Verschwörungstheorien zu stoßen, die den Holocaust leugnen. Gerade wegen dieser Gefahr gibt es am Schlossgymnasium schon seit Jahrzehnten das jährliche Gedenken Ende Januar.

Deportationen gab es aber nicht nur irgendwo, sondern auch direkt vor Ort – in Kirchheim. Daran erinnert Ann Bürgel, die ihren Schülern die Schicksale einzelner Kirchheimer Familien vorstellt: der Familien Reutlinger, Bernstein, Salmon und Vollweiler. Systematisch war ihnen nach und nach die Lebensgrundlage entzogen worden, weil ihre Geschäfte bereits im April 1933 boykottiert wurden und weil ihnen im Lauf der Zeit auch jede andere Berufsausübung untersagt war. Teilweise wurden ganze Familien verschleppt und ermordet, teilweise gelang auch ganzen Familien die Flucht.
Mitunter gab es auch beides – wie bei den Brüdern Albert und Emil Salmon: Albert konnte sich nach Amerika retten. Emil dagegen wollte in Kirchheim bleiben. Er vertraute darauf, dass ihm als hochdekoriertem Weltkriegsteilnehmer nichts passieren werde. Das war ein Irrtum: Seine Spuren verlieren sich in Auschwitz. Dasselbe gilt für seine Frau Else und seinen Sohn Rolf. Ann Bürgel berichtet von 29 Juden, die 1933 in Kirchheim wohnten und voll integriert waren: „Bei Kriegsende ist keiner von ihnen mehr in Kirchheim. Elf von ihnen haben den Holocaust nicht überlebt.“
Stolpersteine bewahren die Namen
An sie erinnern heute Stolpersteine, die vor ihrem letzten frei gewählten Wohnort verlegt wurden. Die Steine sollen ihre Namen weitertragen und sie dadurch vor dem endgültigen Vergessen bewahren. Im Mai kommen weitere Stolpersteine hinzu – für die Überlebenden der Familie Vollweiler. Es sind die ersten Stolpersteine in Kirchheim, die auch diejenigen als Opfer würdigen, die ihr Leben retten konnten, indem sie sich fernab der Heimat, in Argentinien oder in den USA, quasi aus dem Nichts ein neues Leben aufbauten.
„Nach vorne schauen“
Letzteres gilt auch für die Familie von Ronnie Breslow, die als Renate Reutlinger in Kirchheim aufgewachsen ist. Ronnie Breslow lebt heute in Pennsylvania. Seit Jahrzehnten erzählt sie an Schulen ihre Geschichte. Auch am Schlossgymnasium war sie schon mehrfach virtuell zu Gast. Ihre Eltern sind ganz unterschiedlich mit der Vergangenheit umgegangen: „Meine Mutter hat öfters von ihren Familienangehörigen erzählt, die sie verloren hat. Mein Vater dagegen hat immer gesagt, er will nach vorne schauen und nicht zurück.“
Jonas Takors ist der Überzeugung, dass das Gedenken immer auch die Zukunft im Blick hat. Er zitiert aus Richard von Weizsäckers Rede vom 8. Mai 1985: „Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.“ Hinzuzufügen ist, dass es auch darum geht, was in der Zukunft daraus wird. Deswegen hat Schulleiterin Lucia Heffner schon ganz zu Beginn der Gedenkstunde die Vergangenheit in den Blick genommen und gesagt: „Wenn Ideologie über der Menschlichkeit steht, kann das jederzeit wieder passieren.“