Kirchheim/Nürtingen. „O Stimme der Stadt, der Mutter!“ dichtete Hölderlin. Womit das Dilemma benannt ist. Denn Hölderlins Beziehung zu Nürtingen ist heikel. Auf Einladung des Kirchheimer Literaturbeirats bestand Gelegenheit, den lokalen Spuren des Dichters nachzugehen.
Als Sehnsuchtsort feiert Nürtingen in Hölderlins Lyrik stete Wiederkehr. Die Landschaft unter dem „Himmel der Heimat“ prägt die Texte des exzessiven Wanderers. Idyllische Stunden verbringt er im Familiengarten mit seinem Bruder Carl. Gemeinsam lesen sie die „Hermannschlacht“ im „Winkel von Hahrdt“. Doch in Hölderlins Nürtingen tunken nicht nur „holde Schwäne“ den Schnabel ins Wasser. Auch die Mutter spricht mit. Die große Begabung ihres Sohnes erkennt Johanna Christiana früh. Sie sieht ihn für die Theologenlaufbahn vor. Für eine Familie der „württembergischen Ehrbarkeit“ ein typischer Lebensweg. Zugleich ein reglementiertes Dasein, ein „Galeerendienst“, dem der um Freiheit ringende Schriftsteller entkommen will.
Hölderlin-Haus gibt Einblicke
Der Konflikt zwischen Musensohn und Mutter schwelt ein Leben lang. 1802 steht der zerrüttete Friedrich plötzlich vor der Nürtinger Haustür. Eine Heimkehr, die der Not, weniger der Neigung geschuldet war. Hölderlin flüchtet in die Poesie. In Nürtingen beendet er die Sophokles-Übersetzungen, ein großer Teil des Spätwerks entsteht. Die Hälfte des Lebens wird der entmündigte Dichter in der Obhut einer Tübinger Familie verbringen. Bis zu ihrem Tod 1828 wacht Mutter Johanna über die Finanzen des „Pflegsohns“. Im Turm besucht hat sie ihn nie. Seit 2023 bietet das neukonzipierte Hölderlin-Haus authentischen Einblick in Kindheit und Jugend des Dichters. Aus Lauffen zugezogen, gründete Hölderlins verwitwete Mutter mit dem späteren Nürtinger Bürgermeister Johann Christoph Gok einen Hausstand. Den „Schweizerhof“ erwarb Gok 1774 mit dem Vermögen Johannas. Seit 1931 trägt das mehrfach umgebaute Haus den Namen seines berühmten Bewohners.
Neben der Siedlungsgeschichte Nürtingens brachte der literarische Stadtrundgang unter der Führung von Christa Schimpf die Lateinschule und die Stadtkirche St. Laurentius näher. Zwei Institutionen, die im Leben des jungen Dichters eine wichtige Rolle spielten. Die angesehene Lateinschule durchlief auch Friedrich Wilhelm Schelling.
Mit Hölderlin und Hegel wird er wenige Jahre später eine Philosophen-WG im Tübinger Stift beziehen. St. Laurentius, wo Hölderlin konfirmiert wurde, ist steinerner Zeuge des Pietismus. Den bekam der junge Friedrich in den Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn zu spüren. Er beklagt lebensfeindliche Enge, seine Gedichte handeln von Melancholie und Einsamkeit. Dass jedoch Nürtingens Stadtkirche längst ein freudvoller Ort der Kultur ist, stellte Walter Schimpfs exklusive Darbietung an der Orgel unter Beweis.