Wer die Kirchheimer Martinskirche betritt, hat die Wahl. Staunend kann man sich der Prachtentfaltung des Chores hingeben. Oder man entschließt sich, solch barocke Beredsamkeit beiseitezulassen und einen Ort der inneren Einkehr aufzusuchen. Der liegt gleich nebenan. Wie schützende Arme wölben sich gotische Kreuzrippen, laden zur Kontemplation ein.
Aus der ehemaligen Sakristei ist im Zuge der Innenrenovierung ein „Raum der Stille“ geworden. Hier hat der Kirchheimer Künstler Immanuel Preuss ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das Spiritualität nicht illustriert, sondern erfahrbar macht.
Auszeichnungen wie den Pariser „Cité des arts“-Preis
Preuss, der an den Kunstakademien in Nürnberg und Stuttgart studiert und Auszeichnungen wie den Pariser „Cité des arts“-Preis erhalten hat, bleibt seiner künstlerischen Handschrift treu: Reduktion, Dialog mit dem Raum, geistige Tiefe. Seine Werke im öffentlichen und kirchlichen Raum – etwa an der Musikhochschule Stuttgart oder in der Klosterkirche Denkendorf – sprechen eine klare, aber stille Sprache. Auch hier in Kirchheim.
Mit geräuchertem Eichenholz und farbigem Glas reagiert Preuss auf das architektonisch Vorhandene: streng, archaisch und meditativ. Nur Senkrechte und Waagrechte, keine Kurven, keine Schnörkel. Ein altarähnliches Objekt zentriert den Raum. Der hölzerne Ambo – ein fest installiertes Lesepult für die Heilige Schrift – tritt mit dem benachbarten Fenster in subtilen, aber spannungsreichen Dialog.
Holz ist für Preuss ein lebendiges Material. Die Spuren seines Wachstums stellt es ebenso aus, wie Risse und Versehrtheit: die Anmutung einer Lebensgeschichte. Zum dunklen, warmen Holz kommen Licht und Glas hinzu. Ein großes blaues Farbfeld befindet sich an der Längswand. „Blau als große Stille, die es auszuhalten gilt“, sagt Preuss.
„Fürchte Dich nicht“ steht in der Tiefe dieses Blaus
Das Licht, das durch dieses Glas fällt, ist theologisch wie ästhetisch ein Zuspruch: als Tageslicht und als dessen Verwandlung. „Fürchte Dich nicht“ steht in der Tiefe dieses Blaus geschrieben. Keine Mahnung, sondern Auftrag und Ermutigung – eine Erinnerung an Gottes Beistand und Schutz. Wie ein Echo spiegelt sich darin das Ostfenster, in dem Christus am Kreuz erscheint – leicht, fast tänzerisch. Im lichtdurchwirkten Tod am Kreuz verschafft sich schon der Sieg der Auferstehung Geltung.
Eine bewusstseinsbildende Irritation
Doch der Raum der Stille ist kein Museum sakraler Symbole. Eher ein Raumgeschehen, das den Menschen in Aktivität versetzt. Daher ist das Christusfenster aus der geometrischen Ordnung gekippt. Eine bewusstseinsbildende Irritation, an der die Besucher produktiven Anstoß nehmen dürfen. Zugleich wird klar: Christus sprengt die Fesseln formelhafter Gesetzmäßigkeit. „Der Betrachter muss diesen Raum selbst füllen“, meint Preuss. Doch das muss er nicht allein. Denn der Raum antwortet – mit Form und Farbe, mit Licht und Geist. Und mit einem historischen Widerhall. Denn unter dem tiefblauen Glas verbirgt sich ein Fresko aus dem frühen 17. Jahrhundert: Moses mit den Gesetzestafeln. Sichtbar jedoch ist es nur noch in der begleitenden Broschüre. Ganz bewusst: „Nicht der ernste Blick des Moses soll im Vordergrund stehen, sondern die befreiende Zusage der Liebe Gottes“, erläutert Pfarrer Jochen Maier. So ist der Raum der Stille kein Ort des Gesetzes, sondern der Freiheit. Ein Ort, der nicht fordert, sondern trägt. Im besten Sinne ein Ort der Gnade.