Lesung
Kai Bliesener liest im Kirchheimer Zimmermann aus seinem Roman vor

In „Hotel Silber“ verbindet Kai Bliesener historische Recherche mit literarischer Fiktion. 

Der Autor Kai Bliesener zeigt seinen Roman. Foto: Florian Stegmaier

Das Hotel Silber ist ein Brennpunkt deutscher Geschichte. Von 1937 bis 1945 war das ehemalige Hotel in der Stuttgarter Dorotheenstraße Hauptquartier der Gestapo. Nahtlos zog mit Kriegsende die Kriminalpolizei ein. Heute dient der Bau als Erinnerungsort. Geschichte hat sich dort verdichtet – in all ihren Abgründen und Widersprüchen. Schwere Kost, der Kai Bliesener in seinem Kriminalroman „Hotel Silber – neue Zeit, alte Schuld“ literarischen Gehalt verleiht. Auf Einladung des Buchhauses Zimmermann gab der Autor Einblicke in seinen neuen Roman.

Bliesener geht Schicksalen nach, die mit dem Hotel Silber verbunden sind – als Täter und als Opfer. In szenischer Prägnanz führt er ein Stuttgart vor Augen, das von den Verwerfungen der „Stunde Null“ zerrissen ist. Der Krieg ist vorbei. Doch die demokratische Ordnung muss dem allgegenwärtigen Nazitum erst abgerungen werden. Plünderungen und Tötungsdelikte sind an der Tagesordnung. Eine neue Kriminalpolizei soll her. Doch Beamte mit weißer Weste sind rar. So teilen sich im Hotel Silber bald Täter und Opfer die Büros. Ein absurder, gleichwohl wahrer Umstand, den Bliesener für seinen intelligent gestrickten Plot aufgreift.

Haarsträubende Recherchen

Ohnehin fußt der Roman auf umfangreicher Recherche. Das Haus der Geschichte gewährte Akteneinsicht. Beim Lesen der Dokumente hätten sich ihm die Nackenhaare aufgestellt, sagte Bliesener. Zunächst hatte er vor, ein Sachbuch zu schreiben. Für die Wahl des Kriminalromans spricht dessen Anschlussfähigkeit an breite Publikumsschichten. Zumal dem Autor die Gratwanderung gelingt, Erinnerungskultur in eine spannende Handlung zu packen. Der Sog der Erzählung zieht in die zeitgeschichtliche Kulisse hinein, macht den Ernst des Themas erfahrbar.

Bedenkt man, dass der Kriminalroman seine Wurzeln in der Psycho-Logik des Verbrechens hat, ist die Wahl des Genres umso stimmiger. Denn „Hotel Silber“ lässt tief in die Anatomie des Schreckens blicken. Mitunter sei es ihm schwergefallen, sich in die Täterperspektive zu versetzen, sagte Bliesener. Es sei aber notwendig, um zu zeigen, wie erschreckend sinnfrei die Verbrechen gewesen seien.

Fiktion im Dienst der Geschichte

Seinen Roman sieht Bliesener als „kleinen Beitrag zu einem laut herausgebrüllten ‚Nie wieder!‘ “. Schreibend versuche er, das Unvorstellbare greifbar zu machen. Fiktion steht im Dienst der Geschichte. Viele Romanfiguren haben reale Vorbilder. Die Frauenrechtlerin Anna Haag hat ihre Spuren im Text hinterlassen. Ebenso Else Josenhans, die in den letzten Kriegstagen im Hotel Silber ermordet wurde.

Der Roman erinnert an wenig bekannte Vorkommnisse: an die Hinrichtungsorgien des NS-Regimes im Stuttgarter Justizviertel oder die Razzia im Lager der „displaced persons“, bei der ein deutscher Polizist einen Auschwitz-Überlebenden erschoss. Kein Geringerer als W. G. Sebald hatte zur Eröffnung des Stuttgarter Literaturhauses an die unerzählten Geschichten der „displaced persons“ erinnert. Literatur könne Sebald zufolge ein „Versuch der Restitution“ sein.

Eine solche Wiederherstellung leistet auch Blieseners Roman: Er verleiht den Opfern ein Gesicht und erinnert daran, dass Freiheit und Demokratie keine Selbstläufer sind, sondern erkämpft und verteidigt werden müssen.