Es klingt ganz wie in der Geschichte von Dr. Jekyll und Mr. Hyde: Auf der einen Seite ist das Gute und das Gütige, auf der anderen das abgrundtief Böse – vereint in einer einzigen Person, die sich jeweils vom einen in das andere verwandeln kann. Zumindest berichten einstige Kinder, die vor über 40 Jahren im Kirchheimer Wächterheim untergebracht waren, in ganz ähnlicher Form von einem Erzieher, der viele von ihnen regelmäßig sexuell missbraucht hat.
Es gab damals keine psychologische Hilfe für uns - das macht sich bis heute im ganzen Leben bemerkbar.
Frank Klein
Andreas Schlecht und Frank Klein sind zwei der ehemaligen Heimkinder. Sie wollen die Geschichte, die aus ihrer Sicht viel zu lange verdrängt worden ist, ans Tageslicht bringen. Beiden ist sehr wohl bewusst, dass dadurch bei den Betroffenen alte Wunden aufbrechen können. Beide sehen aber auch den heilsamen Effekt: dass die Betroffenen endlich damit beginnen können, das Geschehene zu verarbeiten – indem darüber gesprochen wird. Das Verdrängen muss ein Ende haben, wenn sich die schrecklichen Ereignisse für jeden Einzelnen doch noch zu einem möglichst guten Ende führen lassen sollen.
„Es gab damals keine psychologische Hilfe für uns – und diese fehlende Hilfe macht sich bis heute im ganzen Leben bemerkbar“, sagt Frank Klein. „Die Eltern haben nur einen geringen Bruchteil von dem erfahren, was wirklich vorgefallen ist.“ Beide schildern die Vorfälle aus den 70er- und den frühen 80er-Jahren sehr offen – und sie nehmen dabei kein Blatt vor den Mund. Ihre Erzählungen sind furchtbar und schockierend: Sexueller Missbrauch an kleinen Kindern – ausschließlich Jungs –, vielfach und über Jahre hinweg, der dauerhafte Schäden an Leib und Seele verursacht hat.
Viele der Kinder, die damals missbraucht worden sind, haben sich im Leben nicht mehr zurechtgefunden. Andreas Schlecht und Frank Klein führen Beispiele an von Menschen, die in einem Sumpf von Alkohol-, Drogen- und Spielsucht untergegangen sind und keine Möglichkeit besaßen – bis heute nicht –, sich am eigenen Schopf herauszuziehen. Auch von Suizidfällen berichten die beiden.
Bei Frank Klein hat es viele Jahre gedauert, bis er es geschafft hat, sein Leben äußerlich in den Griff zu kriegen. Mit etwa 30 Jahren hat er die unterschiedlichsten Süchte überwunden und eine Ausbildung erfolgreich zu Ende gebracht, die er in jungen Jahren abgebrochen hatte. Heute ist er längst etabliert im Beruf. Er ist verheiratet und Vater einer Tochter. Im Inneren hat er aber immer noch große Schwierigkeiten – auch und vor allem, wenn es darum geht, der Tochter liebevoll zu begegnen. Eine Umarmung, ein aufmunterndes Wort: Das alles fällt ihm schwer, weil er sich sofort fragt, ob das nicht übergriffig wirken könnte.
„Er war wie ein Vater“
Er hat ja selbst erlebt, wie ein liebevoller Umgang ins krasse Gegenteil umschlagen kann: Den Erzieher schildert er als vorbildlich in seiner Arbeit: „Er war wie ein Vater. Er hat mit uns Fußball gespielt, er hat mit uns Drachen steigen lassen – und er hat uns in den Arm genommen und getröstet, wenn wir uns einmal das Knie aufgeschlagen haben.“
Das wäre alles in Ordnung gewesen, hätte es da nicht zugleich eine gewaltsame Art gegeben, die Kinder in den Arm zu nehmen – und mehr als das: meistens bei Nacht. Die Erinnerungen an eigene Erlebnisse oder an die Geschichten, die Andreas Schlecht und Frank Klein von anderen Schutzbefohlenen gesehen und gehört haben, lassen auch unbeteiligte Zuhörer nicht los. Verständlich, dass die Erinnerungen diejenigen, die sie selbst erlebt haben, ein Leben lang quälen.
„Das müssen alle gemerkt haben“
Was die beiden bis heute nicht verstehen können, ist die Tatsache, dass über Jahre hinweg niemand eingegriffen hat. „Das müssen alle gemerkt haben“, sagen sie. Zumindest könne es nicht sein, dass gar niemand etwas gemerkt hat und dass niemand eingegriffen hat, um die Kinder vor ihrem Peiniger zu retten.
Als die Sache schließlich doch auch offiziell ruchbar zu werden drohte und als der Erzieher zu einem klärenden Gespräch mit der Heimleitung zitiert worden war, entzog er sich diesem Gespräch durch Suizid. Dadurch hatte sich der Fall zunächst erledigt – für damals und für mehr als 40 Jahre.
Die Taten sind das eine, der offizielle Umgang damit das andere: „Da gibt es nichts zu entschuldigen“, sagt Frank Klein. Trotzdem hält er es für wichtig, in Gesprächen über die Vorfälle und ihre Folgen aufzuklären. Deswegen ist er Andreas Schlecht sehr dankbar dafür, dass er die Sache öffentlich gemacht hat, durch ein eigenes autobiografisches Buch und durch den unermüdlichen Kontakt mit der Presse.
Andreas Schlecht selbst betont immer wieder, dass es ihm gelungen sei, sich zu wehren. So sei er selbst zwar nicht zum Opfer des Missbrauchs geworden, aber eben zum Zeugen des Missbrauchs bei vielen anderen Kindern. Daraus zieht er heute noch das Fazit: „Im Alter von zehn Jahren ist für mich die Welt untergegangen.“ Stärke und Anerkennung hat er frühzeitig im Rocker-Milieu gefunden – was auch bei ihm dazu geführt hat, dass sein Lebensweg nicht gerade von bürgerlichen Konventionen geprägt war. Bei aller Härte aber, mit der er sich umgibt, kann es vorkommen, dass ihn eine plötzliche Erinnerung an die Missbrauchsvorfälle im Gespräch völlig aus der Fassung bringt. Dann bricht auch ihm zunächst einmal die Stimme.
Trotzdem wollen beide ihre Stimme erheben: Weil das Trauma ihrer Kindheit lange genug verschwiegen worden ist, wollen sie darüber reden und es ans Tageslicht bringen. So schmerzhaft das auch ist: Es ist der richtige Schritt, um mit dem Trauma irgendwann und irgendwie umgehen zu können.