Pilze wachsen, wo man sie am wenigsten erwartet: in dunklen Ecken, auf feuchtem Holz, in stillen Waldwinkeln. Dieses Prinzip scheint sich Rodrigo Arteaga für seine Ausstellung „Mushroom Variations“ zu Herzen genommen zu haben. Seine poetisch-wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Reich der Pilze ist derzeit auf Einladung des Kirchheimer Kunstbeirats im Max-Eyth-Haus zu sehen. Zentrales Werk der Kabinettausstellung ist Arteagas „Mycelium Book“. Ein Buch, das nicht geschrieben, sondern gewachsen ist.
Im Zuge eines zweimonatigen Aufenthaltes am Centre for Print Research in Bristol arbeitete der chilenische Künstler mit lebendem Myzel, dem faserigen Wurzelgeflecht von Pilzen, das er auf lichtempfindlichen Druckplatten in die Sichtbarkeit hob. Die resultierenden Abzüge sind keine Illustrationen im klassischen Sinne, sondern „nicht-menschliche Zeichnungen“, wie Arteaga sie nennt: „Ich habe versucht, Druck als eine Art Dokumentation des Myzel-Prozesses zu nutzen“. Der Pilz selbst wird zum Gestalter, verschafft sich kraft seiner Expansion künstlerischen Ausdruck. Das Ergebnis ist ein zartes Geflecht aus Linien und Formen, das wie ein Blick unter die Erde wirkt. Oder wie das Gedächtnis eines Waldbodens.
Arteagas künstlerischer Zugang ist interdisziplinär. Davon legten schon seine Ausstellungen im Romantik-Museum in Frankfurt und im Bad Homburger Sin-clair-Haus Zeugnis ab. Mit meditativer Ernsthaftigkeit arbeitet er an der Schnittstelle von Kunst, Wissenschaft und Ökologie: „Ich liebe es, wenn Kunst etwas Unsichtbares sichtbar macht“. Bei Arteaga verschwimmen die Grenzen zwischen Natur und Kunstobjekt, zwischen organischem Wachstum und menschlicher Intention. Reizvoll ist sein künstlerischer Dialog mit Johann Simon von Kerner. Den 1755 in Kirchheim geborenen Botaniker hatte einst Alexander von Humboldt als Weltreisebegleiter umworben. Kerners detailreiche, kolorierte Abbildungen von Pilzen stehen in Korrespondenz zu Arteagas flüchtigen, teils nur angedeuteten Formen. So entsteht ein Zeitsprung: vom klassifizierenden Blick des 18. Jahrhunderts zur kooperativen Kunstpraxis des 21. Jahrhunderts, die nicht mehr nur über die Natur spricht, sondern mit ihr arbeitet. Denn Kooperation ist Arteaga wichtig. Sowohl mit Menschen als auch mit anderen Lebensformen.
Seit über zehn Jahren experimentiert er mit Pilzen. Sein Zugang ist philosophisch: „Ich versuche, wie ein Myzel zu denken“, sagt er, „nicht linear, sondern vernetzt, symbiotisch.“ Diese Haltung spiegelt sich auch in seinen „Pilzgedichten“ wider: kurze Wortskulpturen, deren Buchstaben aus Holz bestehen und über Wochen mit Austernpilz-Myzel besiedelt wurden, bis sie mit dem Boden verwachsen, sich auflösen, verwandeln. Eines dieser Gedichte lautet schlicht „future“ – ein Verweis auf die regenerative Kraft der Pilze. „Pilze sind unsere Zukunft“, sagt Arteaga, „weil sie ermöglichen, dass Leben immer wieder neu entsteht“. Rodrigo Arteagas „Mushroom Variations“ ist eine Einladung zum Umdenken. Eine Erinnerung daran, dass Kunst nicht nur Abbilder, sondern Resonanzräume schaffen kann.
Info Die Ausstellung „Mushroom Variations“ ist noch bis einschließlich 15. Juni im literarischen Museum im Kirchheimer Max-Eyth-Haus zu sehen.