Feierstunde
Sechs neue Stolpersteine am Kirchheimer Ziegelwasen: „Warum waren zu viele still?“

Sie haben alles verloren, aber ihr Leben gerettet: Familie Vollweiler ist knapp der Vernichtung durch die Nazis entkommen. Am Kirchheimer Ziegelwasen vor dem dortigen Restaurant erinnern nun sechs Stolpersteine an sie.

Feierstunde bei den Stolpersteinen am Ziegelwasen. Im Hintergrund stehen in der Mitte die Nachkommen der Familie Vollweiler: Roberto Frankenthal im blauen Hemd, daneben Mario Vollweiler mit dunkler Brille und seine Frau Patricia mit Fotoapparat. Fotos: Irene Strifler

Manch einer hat geglaubt, alles werde wieder gut. Doch es wurde noch schlimmer. „Die Optimisten sind alle umgebracht worden“, sagt Mario Vollweiler. Er ist eigens aus Argentinien angereist zur Verlegung von sechs Stolpersteinen für seine Familie. Mario Vollweilers Vorfahren gehörten nicht zu den Optimisten: Sie haben alles aufgegeben und damit ihr Leben gerettet. Geradenoch sind sie den Nazischergen entkommen und aus Kirchheim teils nach Argentinien, teils in die USA geflohen.

Kirchheims Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader rief an der Stelle des ehemaligen Wohnhauses den Frühlingstag vor 85 Jahren ins Gedächtnis, an dem Johanna

Die Optimisten sind alle umgebracht worden.

Der Argentinier Mario Vollweiler, dessen Vorfahren aus Kirchheim flohen, beschreibt, weswegen viele dem Nazi-Terror nicht entkamen.

und Moritz Vollweiler mit ihren Kindern, darunter die 12-jährige Ruth, in eine völlig ungewisse, aber letztlich doch sichere Zukunft aufbrachen. Die Schikanen und Attacken gegen Jüdinnen und Juden hatten sich in unerträglichem Maße verschärft. Ihr Sohn Fritz war deshalb schon im Jahr 1938 nach Argentinien geschickt worden – allein als 20-Jähriger, voller Sorgen, ob er die Familie je wiedersehen würde. Er fand schnell Arbeit in Buenos Aires und konnte so für Eltern und Geschwister bürgen, die ihm 1940 folgten. Kurz vor dem endgültigen Ausreiseverbot 1941 schafften es noch die älteren Brüder Walter und Kurt, einst Stammtorwart in Kirchheim, in die USA.

„Warum waren zu viele still oder haben mitgemacht?“ stellte Bader einmal mehr die entscheidende Frage und nannte Zahlen: 1930 wurde die jüdische Bevölkerung in Kirchheim auf 37 Menschen beziffert, 1938 waren es noch 18, 1940 noch 4, und 1941 verzeichnet die Statistik keine jüdischen Mitbürger mehr.  Mit dem Satz  „Nie wieder ist jetzt!“, appellierte Bader an Engagement für die freiheitlich-demokratische Gesellschaft und gegen Ausgrenzung.

„Es ist nicht mehr 5 vor 12, sondern eher 3 nach 12 in Zeiten, in der eine Partei im Bundestag von ‘Remigration’ spricht“, warnte Roberto Frankenthal. Auch er ist ein Nachkomme der Vollweilers, genauer der Stiefsohn von Ruth, und Initiator der Steinverlegung. Ihm war es wichtig, seinen Familienmitgliedern, die sich unter großen Opfern und unter Aufgabe der eigenen Biografie vor den Nazis in Sicherheit gebracht hatten, eine Erinnerung zu schaffen. „Ihre Gräber sind in Argentinien und den USA“, sagte er, „doch die Stolpersteine sind umso wichtiger, da sie den Platz zeigen, an dem sie hätten leben und sterben sollen.“

Das Rühren in der Familiengeschichte, die in ihrer Kindheit tabu war, hat Roberto Frankenthal und Mario Vollweiler wieder zusammengeführt. Beide sind bei Buenos Aires aufgewachsen, haben eine Zeitlang die gleiche deutsche Schule besucht und sich dann für über vier Jahrzehnte komplett aus den Augen verloren. Die Verlegung der Stolpersteine hat beide nun gemeinsam auf die Spuren ihrer Vorfahren geführt. In Argentinien genießt die Erinnerung einen hohen Stellenwert: „Sie sind gegangen, aber sie haben ihre Kultur nie abgelegt“, beschreiben sie ihre Vorfahren.

Sechs Stolpersteine erinnern jetzt am Ziegelwasen an Familie Vollweiler. Die Nachkommen haben weiße Rosen um die Steine gelegt.

Ergriffen lauschte eine kleine Runde von interessierten anlässlich der Feierstunde den Erzählungen der Nachkommen, aber auch der Zehntklässlerinnen Anna Utz und Marilen Lutz vom Schlossgymnasium. Sie schilderten eindrucksvoll die Persönlichkeiten der Eltern Moritz und Johanna Vollweiler sowie ihrer Kinder Walter, Kurt, Fritz und Ruth und beschrieben die Drangsalierungen, denen sie zunehmend ausgesetzt waren. Darüber, dass ihre Geschichte exemplarisch für viele Menschen steht und die Verpflichtung birgt, nie wieder eine menschen vernichtende und -verachtende Schreckensherrschaft zuzulassen, waren sich in der Runde alle einig. Die Veranstaltung wurde von Luis Arellano musikalisch passend umrahmt.

Stolpersteine sind kleine Gedenktafeln im Boden. Sie sollen an vertriebene, deportierte und ermordete Opfer des Nationalsozialismus erinnern und werden seit dem Jahr 2007 auch in Kirchheim verlegt. In Kirchheim hat sich bis zu ihrem Tod Brigitte Kneher intensiv mit der Geschichte der jüdischen Bevölkerung auseinandergesetzt. Bei der Stolperstein-Initiative war Dr. Silvia Oberhauser federführend.