Literaturbeirat
Wiederentdeckung einer kühnen Dichterin

Der ehemalige Direktor des Ludwig-Uhland-Gymnasiums, Dr. Volker Sack, ist in der Kirchheimer Stadtbücherei Leben und Werk von Caroline von Günderrode nachgegangen. 

Der Vortrag von Volker Sack gab den Impuls, Caroline von Günderrode als schillernde Gestalt der deutschen Literatur neu zu entdecken. Foto: Florian Stegmaier

Es war mehr als eine Würdigung, die Volker Sack auf Einladung des Kirchheimer Literaturbeirats der Dichterin Caroline von Günderrode angedeihen ließ. Denn der Zugang zur bedeutenden, gleichwohl in Vergessenheit geratenen Frühromantikerin ist verstellt. Lange wurde sie von der Literaturgeschichte ignoriert oder auf die theatralen Umstände ihres Freitodes reduziert.

Es war das Verdienst von Christa Wolf, die Günderrode wieder ins Rampenlicht zu stellen und einer feministischen Lesart zugänglich zu machen. In Ihrer Erzählung „Kein Ort. Nirgends“ spielt Wolf eine fiktive Begegnung der Günderrode mit Heinrich von Kleist durch, die sich als Seelenverwandte erkennen. War also Caroline von Günderrode ein Opfer des Patriarchats? Oder ist sie, wie andere behaupten, nur eine epigonale Schwärmerin?

Flucht vor dem Alltag

In seinem profunden Vortrag ging Volker Sack – Germanist, Altphilologe und ehemaliger Direktor des Kirchheimer Ludwig-Uhland-Gymnasiums – Leben und Werk der Dichterin nach. 1780 in Karlsruhe geboren, verliert Caroline früh den Vater. Die Familie kommt in finanzielle Bedrängnis. 1797 schiebt die Mutter Caroline in ein Frankfurter Damenstift ab. Dem reglementierten Alltag entflieht die junge Frau ins Geistige. Autodidaktisch betreibt sie philologische und naturwissenschaftliche Studien. Die Hoffnung auf eine Ehe mit dem Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny bleibt unerfüllt. Erfüllung findet Caroline im außerehelichen Verhältnis mit dem Mythenforscher Friedrich Creuzer. Doch die Weigerung von Creuzers Ehefrau, der Scheidung zuzustimmen, bedeutet eine emotionale Dauerbelastung. Im Juli 1806 erwartet Caronline ihren Geliebten in Winkel am Rhein. Creuzer jedoch war unter der Last der Umstände kollabiert und sendet einen Brief, in dem er das Verhältnis beendet. Am Rheinufer stößt sich Caroline den silbernen Dolch in die Brust, den sie als „Garant ihrer Freiheit“ bereits Jahre mit sich führt. Zwei Jahre zuvor war Günderrode unter dem Pseudonym „Tian“ in die literarische Öffentlichkeit getreten. Goethe zeigte sich beeindruckt, Clemens von Brentano überrascht. Volker Sack hob die innovativen Aspekte ihres Werks hervor. Sich mit klarer bildhafter Sprache in die Rolle einer Widerstandskämpferin hineinzudenken, wie Günderrode es in ihrem Fragment „Hildgund“ getan habe, sei mutig und kühn. Ihr „Mahomet“-Drama, das den Weg des Propheten zum Monotheismus verfolgt, zeichne sich durch exzellente Recherche aus. Auch in ihrem 1806 erschienenen Band „Melete“ findet man Außerordentliches. Etwa das Gedicht „Der Luftschiffer“. Günderrode konfrontiert hier die Illusion romantischer Entgrenzung mit antikem Ordnungsideal und modernster technischer Errungenschaft.

Enormes geistiges Potenzial

Dem Unbehagen an der Moderne gibt Günderrode in „Vorzeit und neue Zeit“ lyrische Gestalt und spannt einen kritischen Bogen, der über Max Webers „stahlhartem Gehäuse“ bis in unsere Gegenwart reicht. Volker Sack betonte das enorme geistige Potenzial der Günderrode, das jedoch nicht zu seiner vollen Entfaltung gelangen konnte. Als „Ausnahmeerscheinung“ sei sie den meisten ihrer Zeitgenossen überlegen gewesen. Der Vortrag gab willkommenen Impuls, die Günderrode als schillernde Gestalt der deutschen Literatur neu zu entdecken.