Projekt
Wohnen statt Tanzen im Industriedenkmal

Die Freiburger Oekogeno-Genossenschaft will das Backsteingebäude in der Kirchheimer Paradiesstraße aufstocken und auf dem Gelände ein inklusives Konzept mit insgesamt 21 neuen Wohnungen umsetzen.

Ein gewohnter Anblick in der Kirchheimer Paradiesstraße: Wenn das Wohnprojekt verwirklicht ist, sitzen auf dem größeren der beiden Backsteingebäude dreieinhalb weitere Stockwerke in Holzbauweise.       Foto: Carsten Riedl

Wohnen in einer alten Industrieanlage: Das will die Stadt Kirchheim in der Paradiesstraße ermöglichen. Die markanten Backsteingebäude des Projekts „Alte Tuchfabrik“ dienen schon längst andere Zwecken als denen, zu denen sie einmal errichtet wurden: „J. J. Müller“ produziert schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Die bekannteste Nachnutzung für Kirchheimer ist die als Tanzschulen-Standort. Die neueste Planung sieht nun also Wohnen vor: Die Oekogeno-Genossenschaft aus Freiburg möchte an dieser Stelle 21 Wohnungen schaffen und somit inklusives Mehrgenerationen-Wohnen ermöglichen.

Beide Backsteingebäude sollen entsprechend umgestaltet werden. Besonders auffällig dürfte das beim bislang zweigeschossigen Bau ausfallen: Er wird um drei Vollgeschosse und ein zusätzliches Penthouse-Geschoss aufgestockt – in Holzbauweise. Zum genossenschaftlichen Konzept von Oekogeno zählen vor allem die Mitbestimmung, der Schutz vor Kündigung und eine Miete, deren Höhe sich nicht an der Gewinnmaximierung orientiert, sondern an den tatsächlichen Kosten. Zum inklusiven Konzept gehört es auch, dass in diesem Fall Wohnraum für Menschen mit Einschränkungen – insbesondere psychischer Art – zur Verfügung gestellt wird.

Knackpunkt Mobilitätskonzept

Das Mobilitätskonzept war der Knackpunkt in der Diskussion des Gemeinderats: Drei andere Varianten, die untersucht worden waren, haben den Vermerk „nicht umsetzbar“ erhalten – unter anderem, weil die Stellplatzfrage entweder gar nicht oder nicht zufriedenstellend gelöst war. Beim vorgeschlagenen Konzept soll das ganz anders aussehen: Die künftigen Bewohner verzichten freiwillig auf ein eigenes Auto. Stattdessen gehen sie zu Fuß, fahren mit dem Fahrrad oder nutzen die öffentlichen Verkehrsmittel.

Sollte doch einmal ein individueller Bedarf bestehen, dem nur mit einem Auto nachzukommen ist, stehen zu diesem Zweck vier Carsharing-Fahrzeuge zur Verfügung, die ausschließlich von den Bewohnern genutzt werden können. Nur für diese vier Autos sind Stellplätze vorgesehen.

Die Innenentwicklung und -verdichtung sowie das Wohnprojekt als solches begrüßten alle Fraktionen und Gruppierungen des Gemeinderats einhellig. Am Mobilitätskonzept aber schieden sich die Geister. Lediglich Grünen-Stadträtin Sabine Lauterwasser sagte: „Die vier Carsharing-Plätze passen gut ins Gesamtkonzept.“

Andreas Banzhaf (Freie Wähler) stellte fest, dass die vorgesehenen Pkw-Stellplätze nicht ausreichen. CIK-Stadtrat Gerd Mogler brachte noch einen anderen wichtigen Punkt ein: „Da muss man auch an Besucherparkplätze denken.“ Dieter Hoff (CDU) sprach vom „hohen Parkdruck im Paradiesle“. Wer folglich als Bewohner der „Alten Tuchfabrik“ trotz offiziellen Verzichts ein Auto anschaffen sollte, müsse dafür auch einen Stellplatz nachweisen.

Vertragliche Garantie

Auch Marc Eisenmann konnte oder wollte nicht so recht an die freiwillige Selbstverpflichtung glauben: Er beantragte im Namen der SPD-Fraktion, dass Oekogeno das vorgestellte Mobilitätskonzept dauerhaft garantieren soll, indem das Konzept samt der Garantie in den Durchführungsvertrag aufgenommen wird. Dadurch gebe es für die Stadt eine rechtliche Handhabe, sollte das Konzept trotz aller Beteuerungen in der Praxis eben doch nicht funktionieren.

Der Gemeinderat hat diesen Antrag einstimmig abgesegnet, ohne jede Enthaltung. Lediglich eine Enthaltung gab es bei der Zustimmung zum städtebaulichen Entwurf und zum Auftrag an die Verwaltung, das Bebauungsplanverfahren weiterzuverfolgen.

 

Schöne neue Welt

Kommentar von Andreas Volz zum Mobilitätskonzept an der „Alten Tuchfabrik“

Aldous Huxley hat 1932 in seinem dystopischen Roman „Schöne neue Welt“ eine neue Zeitrechnung vorgestellt, die sich am Auto orientiert – am legendä­ren „Modell T“. Inzwischen sind längst keine „Tin Lizzys“ mehr auf den Straßen unterwegs, aber die Popularität des Autos ist ungebrochen groß geblieben.
Das ist die Realität.
Und mit dieser Realität heißt es umzugehen.
Natürlich gibt es Menschen, die die Utopie einer autofreien Gesellschaft bereits erfolgreich vorleben. Ob es jedoch gelingt, in Kirchheim 21 neue Wohnungen ausschließlich an solche Menschen zu vergeben – das ist eine Wette auf die Zukunft. Wenn es gelänge, wäre es schön.
Wenn nicht, gibt es eine Dystopie im Kleinen: Wer ein Auto hat, will es möglichst nahe an der eigenen Haustür abstellen. Die Bewohner der „Alten Tuchfabrik“ sähen sich somit ins Paradiesle vertrieben. Und das ist gewiss kein Garten Eden für Parkplatzsuchende.