Zugegeben – ein architektonisches Highlight würde man hier nicht vermuten. Wäre nicht der TÜV um die Ecke, würden sich nur wenige Leute in den versteckten Winkel an Kirchheims Stadtrand verlaufen. Und doch steht inmitten des Gewerbegebietes ein Gebäude, das die Blicke auf sich zieht. So schlicht sich die Fassade aus Sichtbeton gibt, so kunstvoll und klar ist die Formensprache. Wie ein Auge sitzt ein großes, rundes Fenster im Beton. Es verleiht der Fassade ein Gesicht, macht Wechselblicke zwischen innen und außen möglich.
Dass die baden-württembergische Architektenkammer das Gebäude im Faberweg als Vorbild beispielhaften Bauens ausgezeichnet hat, leuchtet ein. Dass die zeitlose Industrieästhetik eine Brauerei beherbergt, erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Aber wer hat gesagt, dass Gerstensaft hinter Backsteinmauern produziert werden muss?
Braumeister Felix Ungerer ist hochzufrieden mit seiner Produktionsstätte. Die funktionale Halle gleiche seinem Bierstil: „Ich halte mich an das Reinheitsgebot, interpretiere es aber neu.“ Soll heißen: Traditionelles und Modernes vereinen sich. Sichtbeton, Holz und offener Stahlbau fügen sich zu einer harmonischen Einheit. Die Glasfront mit den markanten Oberlichtern sorgt für komplette Ausleuchtung. Auf elektrisches Licht kann die Brauerei tagsüber verzichten. Im Dunkeln strahlt das erleuchtete Innere nach außen: „Das sieht dann aus wie ein Konzertsaal“, meint Ungerer.
In seiner dezenten Würde ist das Gebäude ohnehin anschlussfähig für Deutungen. Mancher Passant vermutet einen modernen Kirchenbau: „Während der Bauphase wurden wir öfter gefragt, welcher Konfession wir angehören“, erzählt Ungerer. Höhe und Weite des Innenraums überraschen.
Ein Hingucker ist das große Fensterrund neben dem Eingang. Die Glasscheibe hat einen Durchmesser von über dreieinhalb Metern. „Davon sind viele Leute fasziniert – bis ich ihnen sage, wie lange ich zum Putzen brauche“, schmunzelt Ungerer. Doch die Mühe lohnt sich. Ästhetisch bildet der Fensterkreis einen Fokus, der die Fassade zentriert. Eine bestechende Lösung, um die die Architekten lange gerungen haben: „Wir haben unzählige Fassadenstudien gemacht“, erinnert sich Jens Rössler, „es war auch mal ein quadratisches Fenster vorgesehen, aber das hat einfach nicht gepasst.“
Gäste schätzen die Ruhe
Mit seinem Kollegen David Brodbeck vom Kirchheimer Büro „mehr* architekten“ hat sich Rössler die Projektleitung geteilt. Eine Herausforderung für die Architekten war die Umgebung. Die bietet nämlich wenig Ansatzpunkte, auf die man baulich hätte reagieren können. Zum Glück hält die Architekturgeschichte Beispiele ansprechender Industriebauten parat.
Mit Erich Mendelsohns Hutfabrik in Luckenwalde war ein ikonisches Vorbild gefunden. Mit ihrer markanten Dachkonstruktion gehört die Halle südlich von Berlin zu den bedeutendsten Denkmälern expressionistischer Industriearchitektur. Der Einsteinturm in Potsdam und das 1960 abgerissene Stuttgarter Kaufhaus Schocken sind weitere Bauten von Erich Mendelsohn.
Als Visionär des Stahlbetonbaus und Vertreter des „organischen Bauens“ zählt er zu den Schlüsselfiguren der modernen Architektur. Mendelsohns Bauimpuls schwingt in der Formensprache der Kirchheimer Halle nach. „Die Halle macht ein Gegenbeispiel zur Umgebung und fügt sich dennoch in den Kontext ein“, meint Rösslers Kollege Dennis Miller. Und sollten die Braukessel eines Tages woanders brodeln, kann jederzeit ein anderes Handwerk einziehen. Denn Multifunktionalität hatte für den Bauherren oberste Priorität.
Doch bislang laufen die Geschäfte gut für Ungerers „Braurevolution“. Seine Gäste schätzen die Ruhe im Biergarten. Die famose Architektur tut ihr Übriges.