Am Abend des 16. Februar 2022 geschieht das Unfassbare: Vor dem „Bio B“-Supermarkt neben dem Kirchheimer Nanz-Center erschießt ein 59 Jahre alter LKA-Beamter seine Ehefrau mit seiner Dienstwaffe. Anschließend tötet er sich selbst. Kirchheim steht unter Schock. Die Vorgesetzten der Frau berichten nach der Tat, dass sich das Opfer, das im Supermarkt arbeitete, vor seinem Ehemann gefürchtet habe. Die Aussage, dass auch Kollegen des LKA-Beamten gewusst haben könnten, dass von dem 59 Jahre alten Mann Gefahr ausgeht, hat ein Ermittlungsverfahren zur Folge, das im Januar 2023 eingestellt wird. Die Begründung: Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass der Täter seine Ehefrau vor der Tat bedroht und sie in Furcht vor ihm gelebt habe. Hätten seine Vorgesetzten davon gewusst, hätten sie seine Dienstwaffe konfiszieren müssen.
Während die Justiz einen Schlussstrich unter den Fall gezogen hat, bleibt Gewalt gegenüber Frauen an der Tagesordnung. Das Frauenhaus in Kirchheim, das Opfern häuslicher Gewalt Zuflucht bietet, ist in diesen Tagen wieder völlig ausgebucht. Wer jetzt Hilfe benötigt, wird an ein anderes Frauenhaus in der Region weitervermittelt. Die Unterkunft, deren Adresse geheim gehalten wird, um die Bewohnerinnen zu schützen, bietet Platz für zwölf Frauen und Kinder. In der Regel leben also vier bis sechs Frauen mit ihren Jungen und Mädchen in den drei Wohngemeinschaften. „Es gibt ein Spielzimmer und ein Kreativzimmer. Alles ist so gestaltet, dass man sich wohlfühlen kann“, sagt Saskia Wiesner vom Trägerverein „Frauen helfen Frauen“. Die Frauen erhalten Beratung und Unterstützung im Umgang mit Ehemännern, Behörden und Gerichten. Im Schnitt blieben sie ein halbes Jahr. „Wie lange jemand bleibt, kommt immer darauf an“, sagt Wiesner. „Gibt es weiterhin Gefahrensituationen? Gerichtstermine wegen des Umgangs mit den Kindern? Wann ist die Situation so beruhigt, dass die Frau in eine Wohnung mit bekannter Adresse ziehen kann?“
Wann wird aus Drohungen Gewalt, vielleicht auch tödliche Gewalt? Sagen kann das niemand. Saskia Wiesner rät dazu, in Gesprächen mit Freundinnen genau hinzuhören. Beziehungsprobleme ernst zu nehmen. „Wenn Treffen abgesagt werden, Freundinnen sich zurückziehen, kann das ein Warnsignal sein“, sagt sie. Auch respektloses Behandeln, Beschimpfungen, Drohungen und Kontrolle seien Formen von Gewalt. Die Betroffenen seien häufig zögerlich, Hilfe zu suchen, relativierten das, was ihnen zustoße. „Die sagen zum Beispiel, ‚Er beschimpft mich ja nur die ganze Zeit und gibt mir kein Geld‘ “, beschreibt Wiesner. „Wir sagen dann: ‚Wenn Sie nicht frei und selbstbestimmt leben können und unglücklich sind, ist das auch nicht in Ordnung‘.“ Um Aufklärungsarbeit zu leisten, ist der Verein „Frauen helfen Frauen“ auch an Schulen mit Workshops aktiv und plant, diese Aktivitäten auszubauen, nachdem mehr Gelder zur Verfügung gestellt worden sind.
Wie gefährlich ein Partner wirklich ist, kann das Frauenhaus nicht einschätzen, weil es nur für die Opfer, nicht für die Täter da ist, sagt Saskia Wiesner. Sei schon einmal die Polizei gerufen und der gewalttätige Partner oder Ehemann der Wohnung verwiesen worden, habe das Opfer die Möglichkeit, sich in puncto Gefährlichkeit von der Polizei beraten zu lassen. Gibt die Frau ihr Einverständnis, wird das Frauenhaus nach einem solchen Einsatz mit Wohnungsverweis automatisch eingeschaltet.
Immer wieder kehrten Frauen zum Partner zurück, manche stünden irgendwann ein zweites Mal vor der Tür des Frauenhauses. „Viele brauchen mehrere Anläufe, weil jede Beziehung zwei Seiten hat“, sagt Wiesner. Doch egal, wie die Frau gegangen sei: „Wir sind immer wieder für sie da.“
Bei häuslicher Gewalt wählen Frauen die Nummer der Polizei: 110. Das Kirchheimer Frauenhaus ist unter der Nummer 07021/46553 erreichbar. Mehr Informationen gibt es unter www.frauenhaus-kirchheim.de oder unter www.landkreis-esslingen/haeuslichegewalt.
Pfau-Weller (CDU) startet Antrag zu Femiziden
Der Mord in ihrer Heimatstadt hat die CDU-Landtagsabgeordnete Dr. Natalie Pfau-Weller dazu bewogen, einen Antrag ans Innenministerium zu schreiben. „Mir war schon vorher klar, dass Gewalt gegen Frauen ein Thema ist, aber dass Femizide so ein großes Thema sind, wusste ich nicht“, sagt Natalie Pfau-Weller. In ihrem Antrag stellt die Abgeordnete unter anderem die Frage, wie viele Frauen in den vergangenen Jahren Opfer von Femiziden geworden sind, was bereits getan wird, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und ob der Femizid als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden kann. „Ziel des Antrags ist es, diese Taten noch stärker ins Bewusstsein zu rücken“, sagt Pfau-Weller.
Der Landtag befasst sich regelmäßig mit dem Kampf gegen Gewalt an Frauen, zuletzt in der Debatte um die Umsetzung der Istanbul-Konvention. Dieser völkerrechtliche Vertrag mit dem offiziellen Titel „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“ und die Umsetzung eines Landesaktionsplans haben auch in Baden-Württemberg dazu geführt, dass mehr Maßnahmen ergriffen werden. Im Vergleich zu 2017 seien die Ausgaben für die 44 Frauen- und Kinderschutzhäuser mehr als versechsfacht worden, so Pfau-Weller in ihrer Rede zur Umsetzung der Konvention vor dem Landtag.
„Dank der Gewaltambulanzen in Heidelberg – mit einer Außenstelle in Stuttgart –, Ulm und Freiburg konnte die Akut-Versorgung der Opfer von Sexualdelikten verbessert werden. Seit dem vergangenen Jahr können sich Betroffene von weiblicher Genitalverstümmelung zudem an die zentrale Anlaufstelle in Ulm wenden. Die Landespolizei unterstützt mit Rape-Kits (Anmerkung der Redaktion: Sets, mit denen nach Vergewaltigungen Proben genommen werden können) das Angebot der vertraulichen Spurensicherung. Um Frauen mit Behinderung besser vor Gewalt zu schützen, fördert das Land mit der Vernetzungsstelle für Frauenbeauftragte in Werkstätten für Menschen mit Behinderung ein bundesweites Vorreiterprojekt“, sagte Natalie Pfau-Weller. adö