Architektur – das hat viel mit Gleichgewicht zu tun. Nicht nur die Statik muss passen. Auch Proportionen wollen austariert, Materialien aufeinander abgestimmt sein. Zwischen Funktionalität und künstlerischer Freiheit liegt oft nur ein schmaler Grat. Und dass sich Tradition und Moderne harmonisch die Waage halten, ist beileibe kein Selbstläufer.
Alt und neu organisch zu verbinden, ist eine typische Herausforderung für das Bauen im dörflichen Umfeld. Wie das bestenfalls gelingt, ist in der Ortsmitte von Reudern zu sehen. Dort hat die Architektenkammer Baden-Württemberg einen Neubau als Vorbild beispielhaften Bauens ausgezeichnet. Ursprünglich sollte hier eine Holzscheune zu einem Einfamilienhaus umgebaut werden. Besagte Scheune gehörte zum angrenzenden Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Doch schnell stellte sich heraus, dass weder die bauliche Struktur noch der Erhaltungszustand der Scheune einen solchen Umbau zulassen. Daher wurde ein Neubau beschlossen.
Die Scheune wirkte jedoch nach: „Da wo Holz war, sollte auch wieder Holz hinkommen“, erläutert Lena Schmidbauer die Grundidee. Mit ihrer Familie lebt die Bauherrin seit 2018 in ihrem dreigeschossigen Holzhaus. „Die Grundfläche ist begrenzt, doch wir wachsen von Stock zu Stock“, weist Schmidbauer auf eine Eigenart des Hauses hin. Denn der Neubau grenzt nicht nur nahtlos ans elterliche Haus an, er ist im Inneren sogar damit verschränkt. So weiten sich die Geschosse bis zur lichtdurchfluteten Galerie unterm Dach.
Jedes Stockwerk hat seine eigene individuelle Atmosphäre. Das Haus ist in Holzrahmenbauweise errichtet, auch die Decken sind aus Massivholz. Die Konstruktion hat Vorteile. In der Bauphase zeitigte sie ein konkurrenzlos schnelles Ergebnis: „Das Haus war in zwei Tagen aufgerichtet“, erinnert sich Architekt Bastian Offterdinger. Neben der Effizienz sprechen ökologische Gründe für das Material, denn Holz ist ein ausgezeichneter Speicher von CO2. Wer mit Holz baut, verlängert den natürlichen Kohlenstoffspeicher der Wälder. Die Hausfassade bildet die Holzbauweise ab. Hier stehen die Holzlatten mit der Schmalseite nach vorne. Das verleiht dem Gebäude eine filigrane Außenwirkung und erlaubt regulierten Lichteinfall durch verborgene Fenster.

Eine weitere Besonderheit ist das beschieferte Bitumendach. Für ein Steildach eine eher ungewöhnliche Wahl. „Das Dach passt zur Fassade, weil die beschieferte Oberfläche sich gut zum vergrauten Holz fügt“, erklärt Offterdinger. Zudem entstehe ein Kontrast zum angrenzenden Bestandsgebäude. Eine „additive Ergänzung“ nennt das der Architekt: „Ich finde es wichtig, dass man sieht, was alt und was neu ist“. Dennoch harmoniert der hölzerne Neubau ausnehmend gut mit seinem betagten Nachbarn aus Stein. Sockelhöhe und die First- und Trauflinien sind verbindende Größen, sie ziehen sich durch beide Häuser. „Der Neubau hält sich an die Regeln“, sagt Offterdinger, „nimmt sich aber die Freiheit, sie in Materialität und Oberfläche neu zu formulieren“. So verstärken sich die Qualitäten von alt und neu gegenseitig. Der innovative Impuls des Neubaus betont die Geschichtsbezogenheit des Bestehenden. „Es ging um die Balance zwischen Reagieren und bewusstem Gestalten“, blickt Offterdinger auf das Projekt zurück. Das preisgekrönte Ergebnis spricht für sich: der Balanceakt ist geglückt.