Als eine Gruppe zorniger junger Männer den Sturm und Drang ausrief, war das Originalgenie geboren. Feuerköpfe wie Lenz und Goethe sprengten das Regelkorsett der Väter und huldigten ihrem neuen Ideal: einem Künstlertum, das nurmehr seinen eigenen Regeln folgt. Sturm und Drang hat Kurt Gminder hinter sich. Ein Originalgenie ist der 75-Jährige noch immer. Vom bürgerlichen Kunstbetrieb weitgehend ignoriert, hat der Maler und Grafiker ein Werk geschaffen, das die Wertschätzung privater Sammler genießt, seiner institutionellen Würdigung aber noch entgegensieht. Womit wenig über Gminders Arbeiten, einiges aber über die Kulturszene gesagt ist.
Erneut springt Galerist Wolfgang Diez in die Bresche und eröffnet ästhetische Räume, die es ohne ihn nicht gäbe. Räume, die zu vibrieren beginnen, ob der schieren Energie der Malerei. Und das, obwohl Gminders Retrospektive fast nur Landschaften zeigt. Es ist die heimische Landschaft, die der Künstler ins Bild setzt: Obstbaumwiesen, den Albtrauf und immer wieder die Teck. Malt Gminder die Teck, meint er auch die Sibylle.
Das Wesen einer Landschaft
An der Decke der Sixtina hat Michelangelo die weissagenden Sibyllen den biblischen Propheten gegenübergestellt. Auch Gminder folgt der Sibyllenspur. Wie die Gabe der antiken Seherinnen wurzelt seine Malerei in den elementaren Kräften der Natur. Gminder malt nicht den sichtbaren Schein, er erfasst das Wesen der Landschaft. Äußere Gestalt zerstäubt unter der Intensität des malerischen Zugriffs, der Umrisse zu schwirrenden Gesten aufhebt, damit das Innere zum Vorschein kommt.
Gminders Bilder erschließen die Natur von ihrer Kraftseite her: als pulsierenden Organismus, durchdrungen von Gewalten, die menschlichen Beschauern Ehrfurcht und Bewunderung abnötigen. Esoterisch sind seine Werke nicht. Aber anschlussfähig an Ökologie und Nachhaltigkeit. Grundsätze, denen auch Gminders selbsterrichtetes Haus im Nassachtal verpflichtet ist. Ein Unikat der Baukunst, das breite mediale Bekanntheit erlangt hat.
Doch der Künstler zeigt sich nicht als reiner Kraftmensch. Robuste Vitalität geht mit sensiblem Gespür für die Abstufung malerischer Tonwerte einher. Gminders Fertigkeit, ein Waldstillleben in subtiles Licht aus fein tarierten Ockertönen zu tauchen, muss den Vergleich mit akademischen Vorbildern nicht scheuen. Der Gang durch die Ausstellung macht klar: Gminders künstlerische Handschrift ist ebenso prägnant wie schmiegsam.
Neben den energisch durchgeformten Bildreliefs hängen stille Welten, die die Natur als Ort des kontemplativen Rückzugs feiern. Doch das Refugium ist bedroht. Am Himmel einer Landschaft, die an alte Niederländer gemahnt, schwebt eine Formation ovaler Scheiben. Invasion der Außerirdischen? Den Krieg der Welten ins Idyll zu tragen, ist beunruhigend und erstaunlich. Und einer dieser verblüffenden Kunstgriffe, von denen Gminders Schaffen lebt. Der kalkulierte Regelbruch zeitigt die Innovation. So arbeitet das Originalgenie.
Die Ausstellung „75 Jahre Kurt Gminder“ ist bis einschließlich Sonntag, 1. Dezember, in der Dettinger Galerie Diez, Kirchheimer Straße 85, zu sehen. Sie ist geöffnet samstags und sonntags von 14 bis 17 Uhr sowie nach telefonischer Vereinbarung unter der Nummer 0 71 63/83 01.

