Das vergilbte Schwarz-Weiß-Foto wurde vermutlich im Sommer des Jahres 1910 in Neuffen aufgenommen. Es zeigt, etwas unscharf, die Festungsruine auf dem Hohenneuffen im Hintergrund, davor sind Obstbäume zu sehen und die Dächer einiger Häuser. Der Blick geht Richtung Osten, das steht fest. Doch wo genau stand der Fotograf, als er das Bild schoss?
Manche Aufnahmen waren wirklich sehr herausfordernd.
Andrea Wangner, Sprecherin der Kreisverwaltung
Wenn sich das so einfach beantworten ließe, wäre das Esslinger Kreisarchiv kaum auf die Mithilfe von freiwilligen „Foto-Detektiven“ angewiesen. Vor gut einem Jahr haben die Hüter der Historie 191 Aufnahmen aus ihrer Sammlung auf der Online-Plattform Smapshot veröffentlicht. Verbunden damit war die Bitte an alle Internetnutzer, sich mit ihrer Orts- und Sachkunde an der Lokalisierung jener historischen Fotos zu beteiligen, deren Motive der Nachwelt mangels detaillierter Beschriftungen Rätsel aufgeben.
Früher gab es kein GPS
Davon gibt es etliche in den insgesamt rund 100 000 Aufnahmen umfassenden Bildeständen des Esslinger Kreisarchivs, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Denn früher gab es kein GPS, das exakte Koordinaten liefert. Doch was nützen der Institution Fotos von Häusern, Straßenzügen und Landschaften, wenn diese sich nicht genau bestimmen lassen? Um die geografische Position von historischen Bildern wiederzufinden, setzt das Esslinger Kreisarchiv daher auf Schwarmintelligenz – und auf das von der staatlichen Hochschule Westschweiz initiierte Mitmachprojekt Smapshot.
Mit Hilfe von „Crowsourcing“, der digitalen Beteiligung der Öffentlichkeit, sollen alte Fotos mit aktuellen Standortdaten verknüpft und in einem virtuellen Globus ausgerichtet werden. „Georeferenzieren“ nennt man das. Auf Smapshot ist es spielend leicht, eine historisches Aufnahme auf ein digitales Geländemodell aus heutiger Zeit zu legen, die exakte Positionierung ist anhand von mehreren übereinstimmenden Punkten möglich. Mit der Software können die Motive von damals mit der heutigen Situation verglichen werden – so werden die Veränderungen deutlich sichtbar.

Von den 191 Luft- und Landschaftsaufnahmen aus dem Landkreis sind bereits 183 auf diese Weise bestimmt worden, berichtet die Sprecherin der Esslinger Kreisverwaltung, Andrea Wangner. Etwa 80 Prozent der Bilder waren innerhalb kürzester Zeit georeferenziert, „das hat uns freudig überrascht“. Aufwendiger sei es dann gewesen, die Angaben der freiwilligen Helfer zu prüfen und gegebenenfalls zu verbessern. „Es gab Georeferenzierungen, die eins zu eins übernommen werden konnten, aber auch ein paar nicht korrekte.“ Manche Aufnahmen, räumt Wangner ein, seien „wirklich sehr herausfordernd, damit auch fehleranfällig und vor allem mühsam zu referenzieren“ gewesen.
Ein Nutzer lokalisierte 51 Fotos
Wie viele Freiwillige sich an der Bildbestimmung beteiligt haben, lässt sich nicht genau sagen. Denn die Mitwirkung kann auch anonym ohne Registrierung erfolgen. Viele Interessierte hätten auch einfach nur „reingeschaut und ausprobiert“. Laut Wangner zählt die Sammlung des Kreisarchivs auf der Online-Plattform lediglich sieben angemeldete Nutzer, „das ist aber nicht ungewöhnlich.“ Keinen von ihnen kenne man. Und so bleibt offen, wer sich zum Beispiel hinter dem Nutzernamen „Joggele“ verbirgt. Er allein hat 51 Esslinger Archivfotos lokalisiert, zu einigen lieferte er auch zusätzliche Hinweise.
Alles in allem ist das Kreisarchiv mit der ersten Phase des Mitmachprojektes zufrieden. Die Erwartungen wurden erfüllt, teilt Wangner mit. Deshalb wird nun eine neue Kampagne vorbereitet. Dieses Mal sollen etwa 800 Aufnahmen aus dem Sammlungsbestand online gehen. Wann genau, ist noch offen. „Hier sind wir momentan im Kontakt mit dem Team von Smapshot über den Zeitplan der Veröffentlichung“, teilt Wangner mit.
Weitere Luftbilder folgen
Nach Angaben des Esslinger Kreisarchivs wird es sich dabei um weitere Luftbilder handeln, die im Auftrag der früheren Kreisbildstellen Esslingen und Nürtingen gemacht wurden. Sie decken in etwa den Zeitraum zwischen 1950 und 1970 ab und haben einen Schwerpunkt im und um das Neckartal. Später sollen auch noch mehr Luftbilder anderer Fotografen dazukommen, um alle Städte und Gemeinden im Landkreis und einen größeren Zeitraum abzudecken. Zuvor müssten aber rechtliche Fragen geklärt werden.
Das steckt hinter Smapshot
Plattform: Die Online-Plattform Smapshot wurde von der Fachhochschule Westschweiz in Yverdon-les-Bains entwickelt. Auf der Online-Plattform sind mehrere Hunderttausend historische Fotos und Karten aus verschiedenen Sammlungen von Bibliotheken und Archiven, vorrangig aus der Schweiz, zu sehen. Die Bilder erlauben eine Zeitreise bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Ziel: Das Ziel von Smapshot ist, einen virtuellen Globus der vergangenen Zeit nachzubilden. So können Veränderung in der Landschaft sichtbar gemacht werden. Das Programm ermöglicht aber nicht nur den Brückenschlag zwischen Vergangenheit und Gegenwart, es kann auch dabei helfen, Städte für die Zukunft zu planen.
Beteiligung: Seit dem Start von Smapshot im Jahr 2017 haben die inzwischen mehr als 1300 Mitglieder sowie zahlreiche anonyme User schon fast 296 000 Bilder georeferenziert.
Kreisarchiv: Das Kreisarchiv Esslingen ist die erste und bislang einzige Institution in Deutschland, die Smapshot nutzt. Die 191 Bilder der Pilotphase sind auf der Online-Plattform unter https://smapshot.heig-vd.ch/owner/esslingen zu finden. eh